Game changer, gekommen um zu bleiben, grösste technologische Entwicklung überhaupt: Künstlicher Intelligenz wurde schon viel zugesprochen. Doch ist der Hype gerechtfertigt? In der Finanzszene beginnt sich Skepsis breit zu machen. 

Der eine oder andere will es schon immer geahnt haben: Der Nutzen von Systemen wie ChatGPT & Co, ist den Lärm, den man um Künstliche Intelligenz (KI) veranstaltet, nicht wert. Zumindest haben sie jetzt eine Bestätigung. Jim Covello, seines Zeichens Head of Global Equity Research bei Goldman Sachs, sagt in einem Gespräch für das US-Finanzinstitut: «Die Menschen überschätzen im Allgemeinen erheblich, was die Technologie heute leisten kann.»

Banken übertreffen sich mit Einschätzungen

Künstliche Intelligenz ist eines der grossen Themen in der Branche. Kein Finanzinstitut, das dazu nicht mit einer Studie oder einem Ratgeber aufwartet.

Die UBS veröffentlichte im vergangenen Juni ein «Rahmenwerk, um die Anlagechancen der KI einzuschätzen und zu ergreifen». Der Anlagespezialist der Zürcher Kantonalbank erläuterte schon im Sommer vor einem Jahr in einem Blogbeitrag, welche Herausforderungen und Anlagechancen KI bietet. Und für die Schweizerische Bankiervereinigung steht fest: «Künstliche Intelligenz gilt als eine der aussichtsreichsten Technologien des digitalen Wandels von Finanzinstituten.»

Die 1-Billion-Dollar-Frage

Dies alles ist sicherlich nicht falsch. Doch laut Covello gilt es, das Treiben kritisch zu hinterfragen. «Meine Hauptsorge ist, dass die erheblichen Kosten für die Entwicklung und den Betrieb von KI-Technologie bedeuten, dass KI-Anwendungen extrem komplexe und wichtige Probleme für Unternehmen lösen müssen, um eine angemessene Rendite auf die Investition (ROI) zu erzielen», sagt er.

Der Aufbau der KI-Infrastruktur werde Schätzungen zufolge in den nächsten Jahren über 1 Billion Dollar verschlingen, einschliesslich der Ausgaben für Rechenzentren, Versorgungsunternehmen und Anwendungen. Covello: «Daher stellt sich die entscheidende Frage: Welches Problem im Wert von 1 Billion Dollar wird KI lösen? Niedriglohnarbeitsplätze durch extrem teure Technologie zu ersetzen, steht im Grunde im krassen Gegensatz zu den früheren Technologietransitionen, die ich in meinen dreissig Jahren in der Tech-Branche verfolgt habe.»

Zögerlicher Einsatz in der Schweiz

In der Schweiz kommt KI heute bei Finanzunternehmen vor allem beim Kundenkontakt zum Einsatz, wie die Hochschule Luzern in einem Bericht unlängst aufzeigte. Allerdings zeigt die Studie auch, dass die meisten eingesetzten Bots derzeit regelbasiert arbeiten, das heisst nur Antworten auf vordefinierte Fragen geben.

Diese Bots sind nicht in der Lage, die Unterhaltung automatisch an einen menschlichen Mitarbeitenden weiterzuleiten, wenn eine Frage nicht beantwortet werden kann. Die Kundschaft ist dann gezwungen, den Kontakt eigenständig über einen anderen Kanal zu suchen. Im Gegensatz dazu sind intelligente KI-basierte Bots flexibler und können Gespräche nahtlos an menschliche Mitarbeitende weiterleiten, was den Kundenservice erheblich verbessert.

Nicht zu vergleichen mit den Anfängen des Internets

KI wird heute immer wieder mit den frühen Tagen des Internets zu vergleichen. Jim Covello von Goldman Sachs lässt diesen Vergleich nicht zu: «Selbst in seinen Anfängen war das Internet eine kostengünstige Technologie, die E-Commerce ermöglichte, um teure bestehende Lösungen zu ersetzen. Amazon konnte Bücher günstiger verkaufen als Barnes & Noble, weil es keine teuren stationären Standorte unterhalten musste», wendet er ein. Die Tech-Welt sei zu selbstgefällig in ihrer Annahme, dass die KI-Kosten im Laufe der Zeit erheblich sinken würden.

Auch setzt er ein Fragezeichen hinter den Möglichkeiten, die KI zugeschrieben werden. «Ich zweifle daran, dass die Technologie jemals die kognitive Argumentation erreichen wird, die erforderlich ist, um menschliche Interaktionen erheblich zu erweitern oder zu ersetzen.»

Nicht zum ersten Mal: Hohe Kosten, wenig Nutzen

Der Goldman Sachs-Spezialist kann dies sehr wohl beurteilen. Er war Halbleiteranalyst, als Smartphones erstmals eingeführt wurden. «Ich habe hunderte von Präsentationen in den frühen 2000er-Jahren über die Zukunft des Smartphones und dessen Funktionalität erlebt, wobei vieles davon genauso eingetroffen ist, wie die Branche es erwartet hatte», sagt er.

Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Hype Investitionen auslöst, die sich am Ende nicht rechnen. Virtual Reality oder Metaverse sind zwei Beispiele aus der jüngsten Zeit. Soweit ist es laut Covello noch nicht, auch wenn die Nvidia-Papiere in jüngster Zeit Federn lassen mussten: «Solange die Unternehmensgewinne robust bleiben, werden diese Experimente weiterlaufen. Ich gehe daher nicht davon aus, dass Unternehmen die Ausgaben für KI-Infrastruktur und -Strategien zurückfahren, bis wir in eine schwierigere Phase des Konjunkturzyklus eintreten, die wir nicht so bald erwarten.»