Thomas Heller blickt auf eine lange Karriere als Marktbeobachter zurück. Doch auch sein Metier wird zunehmend vom Einsatz Künstlicher Intelligenz bedroht. Nun hat der Investmentchef der Zürcher Vermögensverwalterin Belvédère Asset Management mit ChatGPT die Probe aufs Exempel gemacht.
Marktbeobachter stehen derzeit vor einer kniffligen Aufgabe. Sie müssen den überraschenden Renditeanstieg von US-Staatsanleihen über die 5-Prozent-Marke hinaus richtig deuten. Bedeutet die Entwicklung nun «höhere Zinsen für länger»? Oder gar, dass die amerikanische Notenbank Fed weiterhin an der Zinsschraube dreht? Am (heutigen) Mittwoch Abend fällt in den Vereinigten Staaten der nächste Zinsentscheid.
Überraschender Zug
Die Fallhöhe für eine Fehlprognose ist beträchtlich, betrifft sie doch sowohl Aktien- wie Anleiheninvestments – und dies vor dem Hintergrund, dass den Vermögensverwaltungs-Kunden bald der Jahresend-Auszug ihrer Portefeuilles vorgelegt werden muss.
Thomas Heller, ein Veteran unter den Börsenexperten am Zürcher Finanzplatz und gegenwärtig Investmentchef (CIO) der Vermögensverwalterin Belvédère Asset Management, tat angesichts dieser Fragestellung etwas, was man von einem erfahrenen Fachmann nun nicht unbedingt erwarten würde: Er holte sich Rat von der Maschine, wie er in seinen am Mittwoch publizierten «Marktperspektiven» berichtete.
Eine bange Frage
Wie sich zeigt, erhoffte sich Heller von der Anfrage beim Dienst ChatGPT mehr als eine blosse Zinsprognose. Er wollte auch herausfinden, ob Künstliche Intelligenz (KI) Finanzanalysten bald entbehrlich macht.
Konkret fragte Heller den Chatbot: «Welches waren die entscheidenden Faktoren, die zum jüngsten Zinsanstieg beigetragen haben?» ChatGPT antwortete: «Um die entscheidenden Faktoren für den Anstieg der Zinsen zu bestimmen, wäre eine detaillierte Analyse der aktuellen Marktsituation erforderlich.» Hellers Kommentar: «Genau deswegen hatte ich ChatGPT eigentlich gefragt!»
Fünf Argumente gefunden
Immerhin listete die KI in der Folge noch fünf Gründe für den Zinsanstieg auf. Darunter fanden sich, wie Heller berichtet, die Aussicht auf eine straffere Geldpolitik der Fed, steigende Inflationserwartungen, Haushaltsdefizit und Fiskalpolitik, steigende Rohstoffpreise sowie schliesslich die internationalen Entwicklungen.
Einen Punkt landen konnte die Maschine mit dem Verweis auf das US-Haushaltsdefizit, findet der Finanzprofi aus Fleisch und Blut. «Zwar ist die Defizit- und Schuldensituation in den USA nicht neu, aber die Diskussion darüber hat zuletzt wieder zugenommen. Das höhere Angebot an US-Staatsanleihen drückt die Kurse nach unten und im Gegenzug die Renditen nach oben.»
Unveränderte Einschätzung
Insgesamt findet Heller den Erkenntnisgewinn durch ChatGPT aber «überschaubar». Die Markteinschätzung von Belvédère Asset Management habe sich damit jedenfalls nicht verändert. Der Zinserhöhungs-Zyklus der Fed sei beendet. Gegen Mitte des nächsten Jahres dürfte es zu ersten Zinssenkungen kommen, so die Prognose der Vermögensverwalterin.
Am langen Ende, so Heller weiter, würden die Zinsen auf diesem erhöhten Niveau kaum weiter steigen, sondern angesichts der nachlassenden Wachstumsdynamik und der rückläufigen Inflation eher etwas nachgeben.
«Es wäre es ratsam, auf Analysen von Finanzexperten zuzugreifen»
Ebenfalls beruhigt scheint Heller, was die berufliche Zukunft von Finanzanalysten betrifft. Noch sei deren Rolle nicht obsolet geworden, findet er. Denn welchen Rat gab ihm ChatGPT bei seiner Zins-Anfrage mit auf den Weg? «Um genauere Informationen über die aktuellen Marktentwicklungen zu erhalten, wäre es ratsam, auf Analysen von Finanzexperten zuzugreifen.»