Auf wie viele verschiedene Arten kann man sagen: «Dieses Mal ist alles anders?» Man könnte von «anormal» reden, von «subnormal», von «unnormal» und natürlich, von der «Neuen Normalität.»

Mein Firmenkollege Mohamed El-Erian hat diesen Ausdruck vor einigen Jahren geprägt, und seitdem ist er beinahe schon in den Alltagsgebrauch übergegangen. Inzwischen wirkt der Ausdruck allerdings beinahe etwas antiquiert, denn er steht für die vergleichsweise ruhigeren Zeiten des Jahres 2011.

Desaströses Ergebnis droht

Im Jahr 2012 droht aber durch das Aufeinandertreffen vieler unglücklicher Entwicklungen ein wahrhaft desaströses Ergebnis. Die «Neue Normalität», wie Pimco und verschiedene Ökonomen sie beschrieben haben, war eine Welt unterschiedlicher Wachstumsgeschwindigkeiten in der westlichen Welt, hoher Arbeitslosigkeit und relativ geordneten Schuldenabbaus.

Wir bewegen uns jetzt aber scheinbar in einer Welt, in der die Wahrscheinlichkeit von Extremereignissen deutlich zunimmt. Es gibt keine Normalverteilungskurve mehr sondern eine Wahrscheinlichkeitsverteilung mit deutlich dickeren und dominanten Rändern.

Gezeiten-ähnliche Schwankungen

Es ist beinahe so, als besässe die Erde plötzlich zwei Monde und als ob beide Erdtrabanten wachsen und gewohnte Gewissheiten bedrohen: Die gezeitenähnlichen Schwankungen an den Börsen etwa, die Ozeane von Geld, die über den Erdball schwappen und die Art zu wirtschaften, an die wir uns im vergangenen halben Jahrhundert gewöhnt hatten. Willkommen im Jahr 2012.

Diese neue Dualität – Ausfallrisiko und das Risiko von Zinssätzen an der Nullgrenze – charakterisieren 2012 unsere Finanzmärkte. Die Zweiteilung bedeutet am linken aufgeblähten Rand der Wahrscheinlichkeitsverteilung die Möglichkeit unvorhergesehenen, von der Politik ausgelösten Schuldenabbaus – oder auf dem rechten aufgeblähten Rand die Möglichkeit inflationärer Zentralbank-Expansion.

Weitere Lockerungen

Das Januartreffen der amerikanischen Notenbank (Fed) hat mindestens verbal die Gewissheit vermittelt, dass die Kosten des Geldes noch drei Jahre oder länger konstant bei 25 Basispunkten bleiben werden – so lange, bis die Inflation oder die Arbeitslosigkeit spezifische angepeilte Niveaus erreichen. In meinen Augen bedeutet das Quantitative Lockerung unter neuem Namen.

Falls und wenn das nicht funktioniert, wird eine dritte Quantitative Lockerung (QE3) angekündigt werden, die auch so genannt wird – wahrscheinlich Mitte des Jahres – und das Reflationsrennen wird noch einen Gang höher schalten.

m Moment aber ist nicht sicher, ob wir tatsächlich die Entschuldung auf der linken Seite der Wahrscheinlichkeitsverteilung sehen werden oder die Inflation auf der rechten Seite. Nur eines ist sicher: Dass eines der beiden extremen Ereignisse eintritt, ist sehr wahrscheinlich.

Folgerungen für Anleger

Die entscheidende Frage ist natürlich, ob die Vorhaben der Europäischen Zentralbank (EZB), der Bank of England (BoE) und der Fed funktionieren werden. Können sie trotz der Kreditrisiken und dem Nahe-Null-Prozent-Risiko die Instinkte der Anleger wiederbeleben?

Wir werden sehen. Anleger sollten sich allerdings nach allen Seiten absichern, bis die Ergebnisse sich klarer abzeichnen.

Für Anleihen:

  • 1. Duration und durchschnittliche Laufzeiten sollten so hoch wie möglich gewählt werden. Selbst wenn die Reflation erfolgreich ist, wird das nur der Fall sein, weil die Fed und andere Zentralbanken Zinssätze für einen längeren Zeitraum niedrig halten. Finanzielle Repression ist abhängig von negativen realen Erträgen und so lange die Inflation nicht mindestens über einige Jahre hinweg steigt, werden Zentralbanken an der Nullgrenze Winterschlaf halten.
  • 2. Der Großteil der Staatsanleihen-Positionen sollte in den USA sein, solange eine Implosion der Euro-Schulden möglich ist. Alles unterhalb einer fünfjährigen Fälligkeit bringt aber kaum Erträge und bietet nur minimalen Rolldown auf der Zinskurve. Konzentrieren Sie sich auf US-Staatsanleihen mit fünf bis neun Jahren Fälligkeit, um sich gegen Inflation zu schützen und gleichzeitig von Rolldown-Erträgen zu profitieren.
  • 3. Treasuries mit langen Laufzeiten sollten in der Form von inflationsgeschützten TIPS gehalten werden. Wenn die Inflation wirklich kommt, werden Investoren dagegen geschützt sein wollen.
  • 4. Anleger sollten in Unternehmensanleihen mit Ratings von A oder AA investieren. Und ich empfehle, vorrangige Schuldtitel aus dem Finanz- und Banksektor gegenüber nachrangigen Schulden zu bevorzugen. Aus Sorge vor Schuldenschnitten.
  • 5. US-Kommunalobligationen sind günstig bewertet. Ihre Erträge von fünf bis sechs Prozent liegen im Verhältnis zu US-Staatsanleihen auf nahezu historisch günstigem Niveau. Sie bringen allerdings auch Risiken mit sich; nicht nur Volatilitätsrisiken sondern gelegentlich auch Ausfallrisiken. Man bekommt in dieser Welt in der Regel das, wofür man bezahlt und man bekommt wahrlich nichts für umsonst. Seien Sie wählerisch und vermeiden Sie US-Bundesstaaten und Gemeinden mit Renten- und Finanzierungsproblemen.
  • 6. Vermeiden Sie weiterhin die Venusfalle der Euro- Peripherie-Anleihen. Italienische Anleihen, die sieben Prozent rentieren, sind beispielsweise verführerisch, aber dort lauern weitere Risiken bei den Kursen.

Für Aktien und Rohstoffe:

  • 1. Aktien bringen höhere Erträge als Anleihen und werden sich fast immer besser entwickeln – es sei denn im Bereich des linken Rands der Wahrscheinlichkeitsverteilung. Das macht uns allerdings Sorgen. Aktienanleger sollten deshalb Unternehmen mit höheren Renditen in Sektoren wählen, die relativ stabile Cashflows haben: Energieversorger (ja, sie scheinen schon überkauft zu sein), große Pharmaunternehmen und multinationale Unternehmen sollten ganz oben auf der Einkaufsliste stehen.
  • 2. Rohstoffe können sich unterschiedlich entwickeln, je nachdem auf welche Seite der Verteilungskurve sich die Wirtschaft verschiebt. Aber Knappheit und die geopolitische Situation (Iran) begünstigen eine Aufwärtsbewegung. Gold scheint bei 1'550 US-Dollar teuer zu sein, aber wenn die Quantitativen Lockerungsprogramme weitergehen, hat der Goldpreis Spielraum nach oben.

Für Währungen:

  • 1. Der Dollar bleibt König in einem Entschuldungsszenario – aber ein Verlierer in einem Reflationsszenario.

Zusammenfassend lässt sich sagen: In einer Welt mit Zinssätzen nahe Null, in der Schulden und Fremdkapitalgrad weiter reduziert werden, müssen Anleger ihre Ertragserwartungen senken.

Zwei bis fünf Prozent für Aktien, Anleihen und Rohstoffe ist ein erwartbarer langfristiger Ertrag für globale Finanzmärkte, die gegen Null gedrückt werden.

Märkte befinden sich in Gefahr

Wir leben in einer Welt, in der substanzielle reale Preissteigerungen mathematisch fast unmöglich scheinen. Passen Sie ihre Erwartungen an, bereiten Sie sich für Entwicklungen zum einen oder zum anderen Extrem vor. Diesmal ist es wirklich anders und es wird so für einige Jahre bleiben.

Die Neue Normalität ist subnormal, anormal, paranormal und noch einiges anderes. Die Finanzmärkte und globalen Volkswirtschaften befinden sich in Gefahr.

Weitere Artikel finden Sie im Bill Gross Blog.


Bill_Gross_Portrait_klWilliam (Bill) Hunt Gross ist Managing Director Co-Chief Investment Officer von Pimco, einem amerikanischen Finanzunternehmen, das er 1971 mitgründete.

Der 67-jährige Bill Gross studierte Psychologie an der Duke University in Durham (North Carolina), die er 1966 mit einem Bachelor Grad verliess. Nach einem Militärdienst bei der Navy erwarb er 1971 einen MBA von der University of California Los Angeles (UCLA). Sein Studium finanzierte er als professioneller Black-Jack-Spieler in Las Vegas.

Im Jahr 1971 gründete er Pacific Investment Management Company (PIMCO). Er verwaltet den Pimco Total Return Fonds, der mit 236 Milliarden Dollar der weltweit grösste Obligationenfonds sowie der fünftgrösste Fonds überhaupt ist.

Im November 1999 wurde Pimco für 3,3 Milliarden Dollar an Allianz Global Investors verkauft. Mit einem privaten Vermögen von rund 2,2 Milliarden Dollar belegte Bill Gross im Jahr 2011 Platz 564 der «Forbes»-Liste der reichsten Menschen der Welt.