«Es ist höchste Zeit, dass die Schweiz Mut zeigt und Strukturreformen insbesondere im Bankensektor in Angriff nimmt», schreibt der Finanzexperte Beat Wittmann. Die heutigen Missstände und Verluste seien zu einem grossen Teil das Ergebnis der Abschottung der Schweiz seit den 1990er-Jahren, was zu weniger Wettbewerb, weniger Innovation und weniger Wachstum geführt habe.
1. Aktienkurs als Mass aller Dinge
Wie immer ist der zuverlässigste Indikator zur Beurteilung einer Situation und deren Aussichten – nun auch bei der UBS – der Blick auf den Aktienkurs und die Renditeniveaus von Schuldtiteln, etwa für die erneute Emission der berüchtigten AT1-Anleihen. Wichtig dabei: In der Finanzwelt gibt es weder Erinnerungen und noch Bedauern.
Das zusätzliche Problem im Falle der UBS ist, dass die schweizerischen Entscheidungsträger – das Finanzdepartement (EFD), die Nationalbank (SNB) sowie die Aufsichtsbehörde (Finma) – nicht über institutionalisierte Ressourcen und Verfahren verfügen, um die Preissignale des Kapitalmarkts und ihre Auswirkungen zu analysieren.
Bereits beim Niedergang der Credit Suisse (CS) wurden diese Institutionen heillos überrumpelt, weil sie den stetig sinkenden Aktienkurs der angeschlagenen Bank und die stark steigenden Refinanzierungskosten nicht auf dem Radar hatten.
Benchmark heisst Morgan Stanley
Der Kurs der UBS-Aktie erzählt eine andere Geschichte: Der Ausblick ist positiv, da die fusionierte Bank über ein finanzielles Sicherheitspolster verfügt, nachdem sie die CS in einem «Jahrhundert-Deal» zu einem absoluten Tiefstpreis übernommen hat. Zudem wird die Position der Bank dank der positiven Netto-Neugeldzuflüsse, ihrer schieren Grösse und Stabilität und dem Bonus des sicheren Hafens der Schweiz in Zeiten geopolitischer Turbulenzen noch verstärkt.
Die Herausforderung für die neue UBS besteht jedoch in der komplexen Integration der CS mit ihrer sehr unterschiedlichen Firmenkultur und ihren komplizierten Technologie-Plattformen und -abläufen – ein Bereich notabene, in dem weder die Schweizer noch die europäischen Banken bisher brilliert haben.
Gegenwärtig ist es noch zu früh, um den Fortschritt der Integration und Restrukturierung zu beurteilen. Dennoch wird der Kurs der UBS-Aktie der beste Indikator sein, um den entsprechenden Erfolg zu messen, wenn auch mit einer gewissen Verzögerung. Die relevante Benchmark für die UBS und ihre Führung – unter Präsident Colm Kelleher und CEO Sergio Ermotti – ist die US-Bank Morgan Stanley, Kellehers ehemalige Arbeitgeberin.
2. Strukturpolitische Reformen sind ein Muss
Bis zum berüchtigten Fusionsvertrags-Wochenende vom 19. März 2023 war die Strategie der Schweizer Politik blosses Wunschdenken. Der Zusammenbruch der CS entpuppte sich als ein schmerzvoller Weckruf. UBS-Chef Ermotti erklärte kürzlich in einem Interview mit dem US-Nachrichtensender «CNN», dass sein Pflichtgefühl gegenüber der Schweiz und seine Loyalität zur Bank keinen Raum für ein Scheitern liessen.
Versagen ist in der Tat keine Option, gleichwohl stellt eine neue und wesentlich grössere UBS ein existenzielles Risiko für das ganze Land dar. Umso mehr sind nun – besonders nach den eidgenössischen Wahlen vom vergangenen Oktober – strukturpolitische Reformen zwingend.
3. Downsizing und Abwanderung ins Ausland
Der Schweizer Politik ist es bisher nicht gelungen, die Rahmenbedingungen für eine nachhaltige Zukunft der globalen Grossbanken zu sichern. Doch unser Land kann sich ein Scheitern der UBS nicht leisten, und die notwendigen Massnahmen sind so einfach wie einleuchtend:
- Qualität und Quantität der Ressourcen, Prozesse und Governance müssen dem internationalen Niveau angepasst werden,
- ohne Reformen dürfen die Ausgestaltung und das Geschäftsmodell der UBS nicht zu gross sein, dass sie scheitern könnten,
- und keine Reformen lassen nur eine Option zu: Die UBS muss unter die Aufsicht der Europäischen Zentralbank (EZB) gestellt werden.
4. Unentschlossene Politikerinnen und Politiker
Bislang fehlen eine gründliche Analyse, öffentliche Diskussionen und Lehren aus dem Zusammenbruch der CS und der anschliessenden Fusion. Was getan werden sollte, ist, die unzureichenden Regulierungs- und Aufsichtsrahmen der Schweiz anzuerkennen und anzugehen.
Doch in vielerlei Hinsicht scheinen die politischen Entscheidungsträger der Schweiz heute noch unentschlossener zu sein als im Vorfeld des Zusammenbruchs der CS. Sowohl die Politiker als auch die politischen Parteien haben den öffentlichen Diskurs im Vorfeld der Schweizer Parlamentswahlen im Oktober 2023 de facto ausgeschaltet und konzentrieren sich seither noch stärker auf ihre politischen Mandate und Sonder- und Besitzstandsinteressen. Angemessene Reformen sollten jedoch den institutionellen Rahmen stärken und Makro- vor Mikrofragen priorisieren.
Weitgehende Alibiübung
Der von der Regierung in Auftrag gegebene Bericht über die Stabilität des Bankensektors, der von einer Expertengruppe erstellt wurde, war weitgehend eine Alibiübung ohne relevante Erkenntnisse oder Empfehlungen.
Was also, ausser dem Zusammenbruch der CS, könnte einen substanziellen Bericht mit relevanten Empfehlungen hervorbringen? Unsere Hoffnungen ruhen auf der Parlamentarischen Untersuchungskommission (PUK) unter dem Vorsitz von Isabelle Chassot, bisher ein politisches Leichtgewicht ohne einschlägige Erfahrung.
5. Grossbanken sind weder private noch inländische Unternehmen
Banken spielen in jeder Wirtschaft eine entscheidende Rolle. Die Geld- und Kapitalströme über Banken und Kapitalmärkte sind international zudem stark vernetzt. Von zentraler Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die in Basel ansässige Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ). Sie dient als Plattform für die Zusammenarbeit zwischen den politischen Entscheidungsträgern zur Sicherung der Währungs- und Finanzstabilität.
Es ist daher höchst irreführend und unwahrscheinlich, dass die Schweizer Politiker in den Wochen und Tagen vor dem Zusammenbruch der CS keinen enormen Druck von ihren jeweiligen Amtskollegen in New York, Frankfurt und London verspürt haben.
Zahlreiche Skandale
Führende Schweizer Politiker haben die Banken im Allgemeinen wie Privatunternehmen behandelt, was es ihnen ermöglichte, sich von den komplexen Zusammenhängen eines Sektors fernzuhalten, von dem sie weder etwas verstehen noch ein besonderes Interesse daran haben, da damit keine Wählerstimmen zu gewinnen sind.
Dieser «Handsoff»-Ansatz ermöglichte es den Banken, wiederholt Gewinne zu privatisieren und Verluste zu sozialisieren. Das hat dem Ruf des Schweizer Finanzplatzes nach zahlreichen Skandalen nachweislich geschadet.
6. Keine nationale Angelegenheit
Das Finanzwesen ist ein hochkomplexes und interdependentes globales Geschäft, kein schweizerisches Binnen- oder Privatunternehmen. Mit der seit Jahrzehnten politisch egozentrischen und nationalistischen Mentalität, die von der grössten Partei der Schweiz, den isolationistischen Nationalkonservativen der Schweizerischen Volkspartei (SVP), gepredigt wird, kann die Schweiz im globalen Finanzsektor keine relevante Rolle spielen.
Die SNB spielt nicht in der Liga der amerikanischen Federal Reserve (Fed) und der EZB, die sich alles erlauben können. Folglich muss sich die Schweiz an international anerkannte regulatorische und aufsichtsrechtliche Best Practices halten und über Ressourcen und Prozesse verfügen, um eine professionelle und konstruktive Zusammenarbeit mit ihren jeweiligen internationalen Partnern zu gewährleisten.
Nur so kann sie in der Liga der global systemrelevanten Banken (G-SIBs) mitspielen. Im Falle des Zusammenbruchs der CS hat es die Finma beispielsweise versäumt, sich mit der EZB über die Abschreibung der AT1-Anleihen abzustimmen.
7. SNB muss Führungsrolle übernehmen
In früheren Bankenkrisen hat die SNB die Führung übernommen, und sie sollte es auch jetzt tun. Im Gegensatz zum EFD und der Finma ist sie die einzige Institution, die über das notwendige Fachwissen, die Erfahrung und die internationalen Beziehungen verfügt.
Als eine konzertierte Analyse, Entscheidungsfindung und internationale Zusammenarbeit erforderlich war, blieb die Dreifaltigkeit der politischen Entscheidungsträger uneins. Das Trio konzentrierte sich auf seine individuellen Mandate und versagte bei wichtigen gemeinsamen Aufgaben und der missionskritischen Koordination.
Daher ist es zwingend, dass die SNB ihre Governance, ihre Diskussionskultur, ihre Nachfolgeplanung, ihre Transparenz und Rechenschaftspflicht sowie ihre Zusammenarbeit mit der Finma und dem EFD verbessern.
8. Finma als schwächstes Glied in der politischen Befehlskette
Die Finma hat zu keinem Zeitpunkt ihr Mandat erfüllt, weder in Bezug auf die Führung noch in Bezug auf die Qualität, Quantität und effektive Zuteilung von Ressourcen und Verantwortlichkeiten, insbesondere im Hinblick auf die G-SIBs. Das einzige Argument, das für die Finma spricht, ist, dass die entscheidenden politischen Parteien nie eine starke Aufsichtsbehörde wollten.
Unerklärlicherweise hat die Finma aber die umfangreichen Instrumente und Befugnisse, die das Bankengesetz vorsieht, im Fall der CS nicht angewandt. Selbst auf dem Höhepunkt der CS-Krise, die zur Zwangsfusion führte, schien die Finma das schwächste Glied in der politischen Befehlskette zu sein, auch weil sie sich nicht rechtzeitig mit den zuständigen internationalen Stellen absprach. Das muss sich ändern.
9. Selbstgefällig und zwiespältig: ein merkwürdiges Finanzministerium
Der Schweizer Finanzminister Ueli Maurer (SVP) hat seine letzte Amtszeit im Jahr 2022 abwartend verbracht – in der Hoffnung, dass sich die Situation der CS von selbst lösen würde, trotz des anhaltenden Aktienkursverfalls, der steigenden Refinanzierungskosten, der dauerhaft versagenden Bankenführung und der wiederholten Skandale und Verluste.
Die neue Finanzministerin Karin Keller-Sutter (FDP) erbte 2023 eine bereits katastrophale Situation, verschwendete aber wertvolle Zeit. Sie war am Ruder, als sie einen ausländischen Käufer ausschloss und sich gegen die Anwendung des «Too big too fail»-Sanierungs- und Abwicklungsplans entschied – die CS wurde der UBS zu äusserst günstigen Bedingungen übergeben.
Retterin des Weltfinanzsystems
Es bleibt abzuwarten, ob sich das EFD weiterhin auf Lobbying und Öffentlichkeitsarbeit konzentriert, oder ob es Führungsstärke, Substanz und Lehren aus dem CS-Kollaps zeigt, sobald der Tag kommt, diese Lehren anzuwenden. Angesichts der Art und Weise, wie Keller-Sutter derzeit in den Schweizer Medien ihre Rolle als Retterin des Weltfinanzsystems darstellt, besteht indessen wenig Hoffnung.
Es waren die globalen politischen Entscheidungsträger, angeführt von den USA und den globalen Kapitalmärkten, die die selbstgefälligen und unkoordinierten Schweizer Politikerinnen und Politiker zu überfälligen Massnahmen in letzter Minute drängten, und es war wiederum die FED, die der SNB das nötige Geld zur Verfügung stellte, um die Fusion von CS und UBS zu ermöglichen.
10. Mut zu Reformen statt Verweigerung und Hoffnung
Es ist politisch wünschenswert und wirtschaftlich vorteilhaft, dass die Schweiz über einen global wettbewerbsfähigen Finanzplatz und mit der UBS über eine führende G-SIB verfügt.
Leider ist es aber auch eine Tatsache, dass die Schweiz bereits zwei von drei G-SIBs (SBV 1997 und CS 2023) verloren hat und vor drei Jahrzehnten als internationaler Finanzplatz unter den Top 5 rangierte, inzwischen aber unter die Top 20 zurückgefallen ist.
Selbstverschuldeter Absturz
Dieser grösstenteils selbstverschuldete Absturz in der Rangliste und in der Wettbewerbsfähigkeit hat die Schweizer Politik bisher nicht zu den überfälligen Korrekturmassnahmen veranlasst. Der Schweiz fehlen heute Führungspersönlichkeiten und international geachtete Leute wie Alt-Bundesrat Kurt Furgler und der ehemalige SNB-Präsident (1974-1984) und BIZ-Präsident (1982-1984) Fritz Leutwiler.
Bevor er Bundesrat wurde, präsidierte Furgler die erste Parlamentarische Untersuchungskommission (PUK) der Schweiz, die sich mit der «Mirage-Affäre» befasste und die skandalöse Beschaffung von französischen Mirage-Kampfjets für die Schweizer Luftwaffe in den 1960er-Jahren untersuchte. Furglers PUK lieferte einen vernichtenden Bericht, der nicht nur zu Rücktritten in den höchsten Rängen der Schweizer Armee und der Regierung führte, sondern auch zu Strukturreformen in der Armee.
Akademiker und Praktiker
Leutwiler war ein herausragender und international hoch angesehener Zentralbanker, der durch die Öl- und Staatsschuldenkrise und die Stagflationsperiode Ende der 1970er- und Anfang der 1980er-Jahre führte. Er war sowohl Akademiker als auch Praktiker mit ganzheitlichem Blick auf die sich ständig verändernden globalen politischen, wirtschaftlichen und monetären Rahmenbedingungen.
Es ist an der Zeit, dass die Schweiz Mut zeigt und Strukturreformen in der Gesamtwirtschaft und im Bankensektor in Angriff nimmt, wobei letzterer nur ein Teil des Gesamtbildes ist. Die heutigen Missstände und Verluste sind zu einem grossen Teil das Ergebnis der Abschottung der Schweiz seit den 1990er-Jahren, die zu weniger Wettbewerb, weniger Innovation, weniger Wachstum und einer weniger wohlhabenden Gesellschaft geführt hat.
Weg vom innenpolitischen Populismus
Die eidgenössischen Wahlen in der Schweiz sind vorbei, und es ist an der Zeit, die Aufmerksamkeit weg vom innenpolitischen Populismus hin zu einer erneuerten, institutionalisierten Beziehung zu Europa zu lenken, und zwar nicht nur im Bereich der Finanzdienstleistungen, sondern auch in Bereichen der kritischen Infrastrukturen wie Kommunikation, Technologie, Verteidigung, Lebensmittel, Gesundheitswesen, Verkehr, Wasser, Energie, Wissenschaft und Hochschulbildung.
Beat Wittmann ist seit neun Jahren Chairman und Partner der in Zürich ansässigen Finanzberatungs-Gesellschaft Porta Advisors. Der Bündner blickt auf eine mehr als 30-jährige Karriere im Schweizer Bankwesen zurück, die ihn unter anderem zu den Schweizer Grossbanken UBS und Credit Suisse sowie zu Clariden Leu und Julius Bär führte. Von 2009 und 2015 war er zunächst selbständig und danach für die Schweizer Raiffeisen-Gruppe im Asset Management tätig.