An der Delegiertenversammlung muss die Raiffeisen-Spitze wegen der Affäre Vincenz zittern. Wie finews.ch-Recherchen zeigen, hat die Führung aber mit einem geschickten Schachzug Goodwill geholt.
Wenn die über 160 Raiffeisen-Delegierten am kommenden Samstag in Lugano TI zusammentreffen, steht der Bankengruppe eine tüchtige «Kropfleerete» bevor. Angesichts der Affäre um den dieser Tage aus der Untersuchungshaft entlassenen Ex-Chef Pierin Vincenz und nach der beissenden Kritik der Eidgenössischen Finanzmarktaufsicht (Finma) muss die Führung von Raiffeisen Schweiz mit viel Schelte rechnen.
Der «Blick» schrieb am Freitag von einer anstehenden Revolte. Der Unmut der Delegierten trifft vor allem den Verwaltungsrat der St. Galler Raiffeisen-Zentrale. Am (gestrigen) Donnerstag hat die Finma das Versagen des Gremiums bei der Kontrolle des ehemaligen CEO Vincenz nochmals im Detail dokumentiert.
Die Rolle der Geschäftsleitung unter Patrik Gisel, dem amtierenden Raiffeisen-Chef, erwähnte die Behörde im Bericht eher am Rande. Allerdings hat auch Gisel mit seiner unglücklichen Kommunikation zum Enforcementverfahren und der Kehrtwende beim Verkauf der Notenstein La Roche bei vielen Genossenschaftern die Glaubwürdigkeit verspielt.
Lange Liste des Ärgers
Ebenfalls frisch ist der Ärger über die satte Lohnerhöhung, die sich der vom inzwischen zurückgetretenen Johannes Rüegg-Stürm präsidierten Raiffeisen-Verwaltungsrat im letzten April zugesprochen hatte. Laut Medienberichten haben hierzu etliche Raiffeisen-Regionalverbände Opposition angekündigt.
Die aufgestaute Wut könnte sich vorab an der Décharge für Verwaltungsrat und Geschäftsführung für das Jahr 2017 entladen. Diversen Medienberichten zufolge tragen sich Delegierte insbesondere mit dem Gedanken, die Entlastung zu verweigern. Ein Raiffeisenkader aus der Region sagte gegenüber «finews.ch», er halte es nicht für ausgeschlossen, dass die Decharge verweigert wird.
Offenbar entscheidet Raiffeisen Schweiz am (heutigen) Freitag darüber, ob das heikle Traktandum der Entlastung nicht auf die ausserordentliche Delegiertenversammlung vom November vertagt werden soll.
Plötzlich Licht ins Dunkle
Doch vielleicht ist das auch nicht nötig. Offenbar ist es dem letzten März neu eingesetzten Raiffeisen-Präsidenten Pascal Gantenbein gelungen, in einem jüngst an die Leitung der 255 Schweizer Genossenschaftsbanken verschickten Brief für einigen Goodwill zu sorgen.
Wie ein Raiffeisenbanker berichtet, hat der Professor für Finanzmanagement an der Universität St. Gallen (HSG) so offen wie möglich über die laufenden Verfahren informiert. Raiffeisen Schweiz bestätigte den Versand des Briefs auf Anfrage.
Gisel war «nur loyal»
Nachdem die Raiffeisenbanker von der Zentrale lange über die Tragweite des Falls nur in Häppchen informiert wurden, kam das Schreiben des neuen Präsidenten offenbar gut an. Davon profitiert auch das Standing von CEO Gisel. «Es war nicht an Gisel, seinen damaligen Chef Vincenz zu kontrollieren», nimmt ein Banker für ihn Partei. «Das wäre ja illoyal gewesen.»
Nach all den jüngsten Wirren sind auch die Raiffeisen-Delegierten daran interessiert, dass die Bankengruppe möglichst rasch aus den im Tagesgeschäft hinderlichen Schlagzeilen kommt. Dem Duo Gisel-Gantenbein wird von den von finews.ch befragten Bankern immer noch zugetraut, das Schiff in ruhigeres Wasser zu steuern.
Nicht aus dem Schneider
Kurz: Die neu entdeckte Offenheit der Raiffeisen-Spitze könnte bei den echauffierten Delegierten womöglich wie Baldrian-Tropfen wirken. Aus dem Schneider ist die Bankführung deswegen nicht, zumal CEO Gisel.
An der Delegiertenversammlung wird auch ein Zwischenbericht des von Raiffeisen eingesetzten Ermittlungsteams um Ex-Swiss-Life-Präsidenten Bruno Gehrig erwartet. Und die Finma hat es in ihrem Enforcement-Bericht offengelassen, ob im Kontext des Falles weitere Verfahren gegen Einzelpersonen eröffnet werden.