Die Erwartungen der Volkswirte an die Zinssenkungspfade von EZB und Fed haben sich in den vergangenen Monaten deutlich verändert. Auch in der Eurozone ist der Ausblick auf weiter sinkende Zinsen deutlich trüber geworden. Ausschlaggebend wird die Inflation sein.
Dass der Rat der Europäischen Zentralbank (EZB) an seiner heutigen Sitzung einen ersten Zinsschritt nach unten um 25 Basispunkte beschliessen wird, wird weiterhin von der übergrossen Mehrheit der Volkswirte erwartet. Doch die zurückhaltenden bis warnenden Stimmen aus dem EZB-Umfeld in den vergangenen Wochen haben auch hier die Erwartungen für die weiteren Zinsentscheidungen im laufenden Jahr verändert.
Es gilt nun nicht mehr als ausgemacht, dass die EZB vom aktuellen Niveau mit jeder turnusmässigen Sitzung vom aktuellen Niveau von 4,5 Prozent zurückkommen wird.
Damit dürfte die Phase der Normalisierung eingeleitet werden. Erlaubt wird dies durch die gesunkene Inflation und die Notwendigkeit, der Wirtschaft wieder mehr Luft zu verschaffen. Doch wie steil der Zinssenkungspfad ausfallen und wo der Endpunkt der Senkungen liegen wird, ist zuletzt wieder unsicherer geworden. Zuletzt hatte die Teuerung wieder etwas angezogen und auch im Dienstleistungssektor hatten die Preissteigerungen über den Erwartungen gelegen. Auf der anderen Seite hat sich die Lage am Arbeitsmarkt der Euro-Zone aufgehellt und bei der Konjunktur gibt es Anzeichen einer Belebung.
Fed-Zinssenkung in weiter Ferne
Einige Analysten gehen davon aus, dass die gesunkenen Hoffnungen auf Zinssenkungen der US-Notenbank Fed auch Richtung Europa herüberschwappen könnten. Die Inflationsentwicklung in der Eurozone weise eine klare Korrelation zu der in den USA auf, jedoch mit zwei bis drei Monaten Verzögerung.
«Die Probleme der USA mit der hartnäckigen Inflation könnten noch an die europäischen Küsten gespült werden», wird ING-Volkswirt Carsten Brzeski von der Nachrichtenagentur «Bloomberg» zitiert. «Die EZB wäre gut beraten, das Risiko einer Reflation in den USA nicht kategorisch auszuschliessen und vorsichtig zu bleiben.»
Auch Konstantin Veit von Pimco sieht einen Zusammenhang. «Wenn sich also herausstellt, dass die USA ein grösseres Problem haben, ist es unwahrscheinlich, dass die Eurozone nicht zumindest ein kleineres Problem bekommen wird.»
Unterschiedliche Inflationstreiber
Doch die wirtschaftliche Situation in Europa und den USA weicht stark voneinander ab. Während in Amerika die Inflation von der Konjunktur, dem starken Arbeitsmarkt und den steigenden Löhnen getrieben wird, war es in Europa vor allem der Energiepreisschock nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Frühjahr 2022.
«Die Ursache der US-Inflation ist noch nicht beseitigt», sagt Holger Schmieding, Chefvolkswirt der Berenberg Bank. «Die inländische Endnachfrage wächst weiterhin kräftig. Im Euroraum hingegen ist der Putin-Schock weitgehend überwunden. Hier aber schwächelt die Wirtschaft. Das ist ein klarerer Grund, die Zinsen so schnell wie möglich zu senken.»
Nur bei einer klaren Abschwächung der US-Wirtschaft wird noch in diesem Jahr mit einer Zinssenkung in den USA gerechnet.
SNB entscheidet am 20. Juni
In der Schweiz wird von den Volkswirten ebenfalls mit sinkenden Zinsen gerechnet, nachdem die Nationalbank bereits mit ihrer Senkung im Februar auf 1,5 Prozent in Vorlage gegangen war. Die jüngsten Inflationszahlen mit einer Jahresteuerung von 1,4 Prozent im Mai halten den Spielraum für eine erneute Senkung offen. Die Wirtschaft, insbesondere die Industrie, leidet jedoch unter der Nachfrageschwäche aus den Euro-Ländern.
Die SNB wird am 20. Juni über die Zinspolitik entscheiden und ihre geldpolitische Lagebeurteilung vorlegen.