In den kommenden Jahren wird es zu einem epochalen Vermögenstransfer von einer Generation zur andern kommen. Vor diesem Hintergrund müssen die Vermögensverwalter ihre Geschäftsmodelle radikal überdenken. «Sie müssen proaktiv mit den Erben ihrer besten Kundinnen und Kunden in Kontakt treten», sagt Loïc Paquote, Bankenexperte bei der Beratungsfirma Capgemini, im Interview mit finews.ch.


Herr Paquotte, warum wachsen die Vermögenswerte in einigen Regionen der Welt schneller als in anderen?

In einem Jahr wie 2023 mit einem komplexen makroökonomischen Szenario, anhaltender Inflation und hohen Zinssätzen, variierte die Performance von Vermögenswerten je nach Region. Aktien beispielweise haben hohe Renditen im US-Markt erzielt, wobei das Wachstum von Technologiewerten getrieben wurde. Demgegenüber schnitten die Aktienmärkte Grossbritanniens und Chinas aufgrund der makroökonomischen Verlangsamung schlechter ab.

In der Schweiz leben gemäss Ihrem neusten World Wealth Report fast 500.000 Menschen mit einem investierbaren Vermögen von mehr als einer Million Franken – sogenannte High-Net-Worth-Individuals (HNWIs). Was waren die Treiber für diesen Vermögenszuwach im vergangenen Jahr?

Verschiedene Faktoren spielten dabei eine Rolle: Erstens die vergleichsweise bessere Marktperformance. Die Marktkapitalisierung des Schweizer Aktienmarktes stieg 2023 um 10 Prozent, während sie 2022 um 20 Prozent gesunken war. Zweitens verbesserten sich die makroökonomischen Bedingungen: Der nominale private Konsum belief sich 2023 auf 456,8 Milliarden Franken, was einem Anstieg von 11 Prozent entspricht.

«Die Schweiz ist in Europa auf dem 4. Platz»

Drittens spielten die Änderungen in der Geldpolitik eine Rolle: Die Schweizerische Nationalbank (SNB) erhöhte ihren Leitzins im Juni 2023 auf 1,75 Prozent. Da die Inflation ab Juni im Einklang mit dem SNB-Ziel unter 2 Prozent sank, nahm die SNB 2023 keine weitere Erhöhung vor.

Die nachfolgende Entscheidung, den Leitzins im März 2024 um 25 Basispunkte auf 1,5 Prozent zu senken, zeigte das proaktive Vorgehen der SNB zur Steuerung der wirtschaftlichen Dynamik eindrücklich.

Wo steht die Schweiz im europäischen Vergleich hinsichtlich der Anzahl von Millionären?

Mit 494'000 HNWIs belegt die Schweiz weltweit den 7. Platz und in Europa den 4. Platz, hinter Deutschland, Frankreich und Grossbritannien in Bezug auf die HNWI-Bevölkerung.

In den vergangenen Jahren hat ein globaler Vermögenstransfer begonnen. Was bedeutet das?

Die Vermögensverwaltungs-Branche steht vor einer epochalen Transformation. Laut einer Schätzung des Research-Unternehmens Cerulli Associates werden allein in den USA bis 2045 voraussichtlich Vermögenswerte von 72,6 Billionen Dollar an «Kinder und Nachfolger» übertragen.

Vermögensverwalter müssen also ihre Strategien und Dienstleistungen an die sich wandelnden Bedürfnisse und Präferenzen der nächsten Generation anpassen.

Was bedeutet das?

Die nächste Generation von vermögenden Privatpersonen wird andere Vermögensprioritäten und Präferenzen haben, wie das Thema Nachhaltigkeit. Das erfordert von den Vermögensverwaltern, Investitionsoptionen und Dienstleistungen anzubieten, die diesen Bedürfnissen entsprechen.

«Privatbanken überdenken schon jetzt ihren Ansatz, wie die verschiedenen Vermögensstufen bedienen können»

Die nächste Generation von HNWIs bevorzugt auch digitale Kanäle für Finanzberatung und Kommunikation. Sie erwartet von einer Privatbank das gleiche Niveau an digitaler Erfahrung wie in anderen Branchen. Das wiederum betont die Notwendigkeit für die Vermögensverwalter, ihre digitale Transformation zu beschleunigen.

Was müssen Finanzinstitute anbieten, um die nächste Generation von Wohlhabenden betreuen zu können?

Vermögensverwalter müssen künftig proaktiv mit den Erben ihrer HNW-Kunden in Kontakt treten. Dies erfordert einen Fokus auf die Betreuung von Mehrgenerationen-Familien statt nur einzelner Kunden. Darüber hinaus ist es unerlässlich, Programme für Finanzausbildung und Networking anzubieten, um die Erben effizient auf den Vermögenstransfer vorzubereiten.

Menschen mit einem investierbaren Vermögen von einer Million Franken sind für Privatbanken nicht attraktiv. Setzt dies die Kunden nicht dem Risiko aus, ihre Millionen zu verlieren?

Privatbanken überdenken schon jetzt ihren Ansatz, wie die verschiedenen Vermögensstufen innerhalb des HNWI-Segments bedienen können. Während aktuelle Geschäftsmodelle und Vorschriften das Interesse an der Betreuung tieferer Vermögen abschrecken, machen es technologische Fortschritte und der breitere Zugang zu Finanzprodukten attraktiver, auch niedrigere Vermögen zu bedienen.

«So lassen sich nuancierte Kundenprofile erstellen, die laufend aktualisiert werden.»

Darüber hinaus konzentrieren sich Privatbanken in Zeiten von Währungs-, makroökonomischer und geopolitischer Unsicherheit auf das hochkonzentrierte Ultra-HNW-Segment (UHNWI), das nur 1 Prozent der Bevölkerung ausmacht, aber 34 Prozent des Vermögens hält. Das stellt lukrative Geschäftsmöglichkeiten dar.

Zudem wird die Künstliche Intelligenz (KI) das Kundenerlebnis und die Produktivität der Kundenberaterinnen und -berater noch erheblich verbessern.

Wie lässt sich KI bei der Betreuung von Millionärinnen und Millionären einsetzen?

KI hat mehrere Anwendungsfälle entlang der Wertschöpfungskette der Vermögensverwaltung. So kann KI beispielsweise Besprechungen zusammenfassen, Risikobewertungen und -kontrollen unterstützen, Routineaufgaben automatisieren und die Kommunikation personalisieren.

Die KI kann durch die Analyse von Kundenprofilen und Anlagepräferenzen personalisierte Mitteilungen für HNWIs generieren. Dies schafft für den Kundenberater zwar einen erheblichen Mehrwert, indem es sie von einigen nicht kundenbezogenen Tätigkeiten entlastet, trotzdem müssen sie Zeit mit den Kunden verbringen und ihnen individuelle Aufmerksamkeit schenken.

Müssen wir die Kundenprofile, mit denen die Banken arbeiten, neu schreiben oder definieren?

Nein, eher geht es darum, die bestehenden Kundenprofile um Verhaltens- und psychografische Daten zu ergänzen. So lassen sich nuancierte Kundenprofile erstellen, die laufend aktualisiert werden.

«UHNWIs wenden sich für ihre nicht-finanziellen Bedürfnisse oft auch an Family Offices»

Das Verständnis der Emotionen der Investoren ist besonders während volatilen Marktphasen wichtig. Die KI wird dabei helfen, Daten aus alternativen Quellen zu integrieren, Profile in Echtzeit zu aktualisieren, die Stimmungen der Kunden zu analysieren und aus dem tatsächlichen Verhalten zu lernen, um personalisierte Empfehlungen und Kommunikation zu ermöglichen.

Laut der Capgemini-Studie wollen die Superreichen heute mit bis zu sieben verschiedenen Vermögensverwaltern gleichzeitig arbeiten. Warum?

Das UNHWI-Vermögenssegment hat vielfältige Bedürfnisse, die von finanziellen bis hin zu nicht-finanziellen reichen.

Mit einem so vielfältigen Satz von Investitionsbedürfnissen und -präferenzen, die sich über verschiedene Jurisdiktionen und Generationen erstrecken, wenden sich UHNWIs an verschiedene Anbieter, die auf ihre jeweiligen Bereiche spezialisiert sind, um unterschiedliche Anforderungen zu erfüllen. Es wird auch vermehrt beobachtet, dass UHNWIs sich für ihre nicht-finanziellen Bedürfnisse an Family Offices wenden.


Loïc Paquotte ist seit eineinhalb Jahren für das Beratungsunternehmen Capgemini tätig, wo er für den Finanzsektor in der Schweiz und die Wealth & Asset Management-Sparte Capgemini Invent hierzulande zuständig ist. Er hat rund 15 Jahre Erfahrung in der Strategie- und Managementberatung. Zuletzt war er Direktor bei Chappuis Halder, einem Unternehmen, das im Januar 2023 Teil der Capgemini-Gruppe in der Schweiz wurde; zuvor hatte er bis 2020 ähnliche Funktionen bei KPMG in Genf inne. In seiner heutigen Tätigkeit unterstützt er Finanzinstitute bei der Transformation ihrer Geschäftsmodelle mit dem Ziel, die Vertriebseffizienz und das Kundenerlebnisses zu verbessern – gestützt auf den neusten Technologien, die der Markt bietet.