Der Prozess gegen den einstigen Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz und diverse Mitangeklagte wartete mit vielen Superlativen auf. Nun ist das erstinstanzliche Urteil gerade wegen der als «ausschweifendend» befundenen Anklage zu Fall gekommen. Das ist möglicherweise rechtlich korrekt – aber dennoch beunruhigend, findet finews.ch.
Beobachter reiben sich die Augen: Statt des erwarteten Berufungsprozesses vom kommenden Juli geht das Verfahren gegen Pierin Vincenz zurück auf Feld eins. Das Obergericht das Kantons Zürich hat das erstinstanzliche Urteil vom April 2022 gegen den früheren CEO von Raiffeisen Schweiz sowie gegen diverse Mitangeklagte aufgehoben, wie auch finews.ch am (heutigen) Dienstag berichtete.
Die Staatsanwälte müssen nun Verfahrensmängel beheben und erneut Klage beim Bezirksgericht Zürich einreichen. Sie beginnend damit nochmals von vorn.
Zentraler Anspruch verletzt
Wie sich zeigt, sind die Ankläger über den schieren Umfang ihrer Vorwürfe gestolpert. Im Verfahren gegen den Ex-Raiffeisen-Chef hat die «teilweise ausschweifenden Anklageschrift» von fast 400 Seiten den vorgesehenen gesetzlichen Rahmen gesprengt, fanden die Oberrichter. Durch diesen Umstand sei es den Beschuldigten erheblich erschwert worden, sich wirksam zu verteidigen.
Die Instanz sah dadurch den im einem Vefahren zentralen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Und urteilte entsprechend.
Grösseren Saal angemietet
Die auf Wirtschaftsvergehen spezialisierte Staatsanwaltschaft III des Kantons Zürich unter Chefankläger Marc Jean-Richard-dit-Bressel hat Schiffbruch erlitten mit dem kühnen Vorhaben, Beschuldigungen wegen mutmasslichen Spesenbetrugs und ungetreuer Geschäftsführung zusammenzuziehen und als strafrechtliches Epos vors Bezirksgericht Zürich zu bringen.
Der Prozess im Januar vor zwei Jahren wartete dann seinerseits mit Superlativen auf. Als grösstes Wirtschaftsverfahren in der Schweiz seit Jahren stiessen die Verhandlungen auf enormes öffentliches Interesse. Das Bezirksgericht musste damals den grossen Saal des Volkshauses in der Zürcher Innenstadt anmieten, um dem Medien- und Besucherandrang zu genügen. Und weil die Prozesstage im Januar nicht ausreichten, ging das Verfahren im März 2022 in Verlängerung.
Im Eiltempo durchgepeitscht
Von Anfang an kämpfte das Gericht mit der Komplexität des Falls und den damit einhergehenden Verspätungen; in einigen Anklagepunkten drohte damals schon Verjährung. Bände sprach etwa, dass Gerichtspräsident Sebastian Aeppli gleich am ersten Prozesstag entschied, nicht auf den Antrag auf Vertagung von Strafverteidigern einzugehen und das Verfahren stattdessen im Eiltempo durchzupeitschen.
Das auch von Experten als hart eingestufte Urteil sendete dann das Signal einer Instanz, die souverän und ungerührt von den Turbulenzen ringsum entscheidet. Dabei wies das Verfahren von Anfang an eine gesellschaftspolitische Komponente auf: In den Medien hatte, wie das Bezirksgericht selber feststellte, bereits eine umfangreiche Vorverurteilung der Beschuldigten stattgefunden. Dass liess darauf schliessen, dass die Öffentlichkeit nach einer Bestrafung lechzte.
Auf Biegen und Brechen
Fast auf Biegen und Brechen geführt, fällt das Verfahren nun in sich zusammen. Die Ankläger stehen wieder auf Feld eins. Das sendet ein neues Signal aus, eines, das zu denken gibt: Selbst die versierten Zürcher Staatsanwälte und das Bezirksgericht unter dem erfahrenen Präsidenten Aeppli sind dem Umfang des Falls, diesem Vincenz-Epos, nicht gerecht geworden.
Die Frage stellt sich, ob sich das Verfahren nicht insgesamt den Möglichkeiten einer Schweizer Gerichtsbarkeit entzieht. Das wäre ein höchst ernüchternder Befund.
«Möglichst kurz, aber genau»
Beim Obergericht des Kantons Zürich hält man dagegen den Anspruch auf ein korrektes Verfahren hoch. Die Lösung, die man dort propagiert, klingt auf den ersten Blick folgerichtig: «Eine Anklageschrift hat das Verhalten, welches einer beschuldigten Person vorgeworfen wird, möglichst kurz, aber genau zu umschreiben», erklärte die Instanz am Dienstag.
Angesichts von bisher fünf erstinstanzlich verurteilten Personen, Millionen an blockierten Vermögen und Verästelungen des Falls, die bis ins nahe Ausland reichen, dürfte dies aber einer Quadratur des Zirkels gleichen.