Leopard 2 und Sky Shield: Handeln tut not. Die Weltgeschichte findet heute statt, jetzt. Wir dürfen nicht mehr lange trödeln. Wer zu spät kommt, den bestraft die Geschichte, schreibt Konrad Hummler in seinem Essay auf finews.ch.
Unser Land ist durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine zweifellos in ein strategisches Dilemma geraten. Die über weit mehr als hundert Jahre gehandhabte Neutralitätspolitik will nicht mehr so richtig in das Bild eines modernen bewaffneten Konflikts passen.
Während die einen lautstark und qua Initiativdrohung auch handfest zur buchstabengetreuen Prinzipientreue zurückkehren wollen, erfinden andere laufend neue Adjektive zur noch differenzierteren Auslegung von Neutralität, bis hin zur Sinnentleerung.
Wieder andere raten, die Neutralität über Bord zu werfen und der realexistenten Blockzugehörigkeit in die Augen zu schauen.
«Neutralität ist kein staatspolitisches Ziel»
Wie immer vor wirklich schwierigen Entscheiden lohnt es sich auch in diesem Fall, keinen der Standpunkte vorschnell zu disqualifizieren. Die Sachlage ist zu ernst, als dass kein echter Diskurs unter Wahrung von Achtung und Anstand angezeigt wäre. Denn am Ende sollte die Schweiz mehr oder weniger geeint das Richtige oder wenigstens Unvermeidliche tun.
Zunächst sind ein paar begriffliche Klärungen angezeigt. «Neutralität» ist kein staatspolitisches Ziel, sondern einerseits eine Maxime für aussen- und sicherheitspolitisches Handeln, andrerseits eine Sammlung völker- und landesrechtlicher Normen und Anweisungen vom «Haager Friedensabkommen von 1907» bis zu Reglementen der Schweizer Armee.
Zu den staatspolitischen Zielen gehören dagegen die in der Schweizerischen Bundesverfassung explizit erwähnten Begriffe wie die «Unabhängigkeit und die Sicherheit des Landes» (Artikel 2). Aussen- und Sicherheitspolitik sind als Aufgabe dem Bund und mithin der Ausführung durch die Bundesbehörden zugeordnet; eine allfällige Verankerung der Neutralität in der Verfassung entspräche einem Übergriff zwischen Gesetzgebungs- und Exekutivgewalt. Im übrigen ist «Neutralität» als Handlungsmaxime und völkerrechtliche Verpflichtung nur solange von Bedeutung, als sich unser Land nicht angegriffen weiss.
Die Frage, wie weit Vorbereitungshandlungen zur Zusammenarbeit mit einer potentiellen Kriegspartei gehen dürfen, ist strittig.
«Oft stand man am Abgrund der offenkundigen Verletzung der Neutralität»
Nun ist es geschichtlich gesehen gewiss so, dass unser Land mit der Neutralität sehr gut gefahren ist, angefangen vom deutsch-französischen Krieg (1870-71) über den Ersten und Zweiten Weltkrieg bis hin zum Kalten Krieg. Dabei fällt allerdings auf, wie verschieden Neutralität jeweils gehandhabt wurde, und auch, wie dehnbar der Begriff über die ganze Zeit hinweg war.
Oft stand man am Abgrund der offenkundigen Verletzung der Neutralität, so 1940 aufgrund der von General Guisan veranlassten Zusammenarbeit mit den Franzosen zu Beginn des Zweiten Weltkriegs oder auch jüngst, als dank schweizerischer Verschlüsselungssoftware sozusagen der ganze geheime Schriftverkehr nichtwestlicher Botschaften in aller Welt für die USA entzifferbar gemacht wurde.
«Hat die Neutralität uns gerettet? »
Je nach Situation oder auch dem Mass an Bequemlichkeit der Bundesbehörden interpretierte man die Neutralität zeitweise als eher passive Vermeidungsstrategie oder aber als Anlass zu aktivem Eingreifen – von Gefangenenaustausch über Nahrungsmittellieferungen (an beide Seiten) bis zur Pflege von Kriegsversehrten. Eigenständigkeit und Handlungsfreude sind unter diesem Titel seit einiger Zeit eher rückläufig. Man bevorzugt supranational basierte Umzüge.
Hat die Neutralität uns gerettet? Ja. Aber nicht allein, und auch nur dank vielen glücklichen Umständen und Fügungen. Ohne ein übergeordnetes (das heisst bei allen Kriegsparteien vorhandenes) Interesse an der Unversehrtheit der schweizerischen Wirtschaft und unserer Infrastruktur und ohne überzeugende Wehrbereitschaft und -fähigkeit wäre die Schweiz genau wie alle umliegenden Länder in den Strudel der Weltgeschichte gezogen worden.
Neutralität ist mit andern Worten nicht hinreichend. Zusätzlich braucht es zwingend die beiden Mittel einer Dualstrategie, das heisst sowohl kooperativer als auch nichtkooperativer Konfliktbewältigung: das wirtschaftliche Entgegenkommen einerseits und die militärische Verteidigung mit allen Konsequenzen andrerseits.
«Der heutige Konflikt beginnt zeitlich früher und viel räumlich weiter vorne»
Worin bestehen die heutigen Herausforderungen? Zum ersten: Neutralität war zu Zeiten des Landkriegs deutlich einfacher zu definieren und zu handhaben als heute. Ein Krieg begann damals, wenn eine Partei die Landesgrenze in kriegsführender Absicht überschritten hatte, also am Schlagbaum in Diepoldsau oder Kreuzlingen oder Chiasso. Es war mithin auch klar, wann der Angegriffene mit andern Kriegsparteien zusammenarbeiten durfte, um sich gemeinsam zu wehren.
Der heutige Konflikt beginnt zeitlich früher und viel räumlich weiter vorne, ja, es ist angesichts feststellbarer Cyberaktivitäten gar nicht so sicher, ob er nicht längst begonnen hat. Deshalb muss gelten: Auch wenn man weiterhin grundsätzlich am Neutralitätskonzept festhalten will, muss es einer auf Unabhängigkeit und Sicherheit ausgerichteten Landesführung unbenommen sein, eigenständig zu bestimmen, wann der räumliche und zeitliche strategische Interessensraum verletzt worden ist.
Und die Landesführung muss auch ohne von aussen oder von innen auferlegte Einschränkungen in der Lage sein, den graduellen Mitteleinsatz zu steuern. Dazu gehören in der modernen Konfliktbewältigung Sanktionen, so schwer einschätzbar deren Wirkung auch sein mag.
«Grundsätzlich sind drei Ebenen zu unterscheiden»
Zum zweiten: Spätestens seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Entwicklung von Massenvernichtungsmitteln und Raketen ist es klar, dass es für den kleinen, unabhängigen und grundsätzlich verteidigungsfähigen Kleinstaat unmöglich ist, sämtliche Sicherheitsprobleme selber zu lösen. Cruise Missiles, aus der Ferne einsetzbare Drohnen und Cyber akzentuieren die Situation zusätzlich. Grundsätzlich sind drei Ebenen zu unterscheiden:
- Sicherheitsaufgaben, die ein unabhängiges Land unbedingt selber lösen sollte und auch die Mittel dazu haben müsste. Dazu gehören polizeiliche Aufgaben, die Territorialverteidigung sowie die integrierte Verteidigung durch Armee, übrige staatliche Instanzen, zivilgesellschaftliche Organisationen und die Wirtschaft. Früher nannte man das «Gesamtverteidigung»; man hat sie absterben lassen.
- Sodann gibt es Sicherheitsaufgaben, für die sich eine Zusammenarbeit aufdrängt. So im Bereich der Luftverteidigung oder auch der Cyberabwehr.
- Die dritte Ebene umfasst jene Sphären, die alleine grösseren Mächten vorbehalten sind und deren «Betreten» den Kleinen zum Teil auch völkerrechtlich verwehrt ist, zum Beispiel durch den Atomwaffensperrvertrag von 1968.
«Unsere derzeitige Verteidigungsfähigkeit am Boden würde bestenfalls einen Monat halten»
Dritte Herausforderung: Wir sind weder in den unabdingbar selber zu erledigenden Sicherheitsaufgaben noch dort, wo wir zusammenarbeiten sollten, in hinreichender Weise ausgerüstet und bereit. Unsere derzeitige Verteidigungsfähigkeit am Boden würde bestenfalls einen Monat halten.
In der dritten Dimension werden wir durch das zu beschaffende Kampfflugzeug F35 zwar strukturell zusammenarbeitsfähig – von wirksamer, ausexerzierter Kooperation (mit wem genau?) sind wir aber weit entfernt. Noch schlimmer: Wir tun bei weitem zu wenig, um aus diesem Deadlock auszubrechen. Die Neutralität wird als Ausrede missbraucht, nichts zu tun.
«An der Wiederherstellung unserer Verteidigungsfähigkeit darf keine Minute mehr gerüttelt werden»
Was klar fehlt, ist eine von der Mehrheit der Schweizer getragene, einfach verständliche Doktrin, wie (mit oder ohne Neutralität) mit den Herausforderungen moderner Konfliktformen umzugehen ist und wie das in der gegenwärtigen, konkreten europäischen Lage umzusetzen ist.
Wenn Sicherheit und Unabhängigkeit die obersten Ziele sind, dann ist aus heutiger Sicht klar: Je schlechter die Russen in ihrem Angriffskrieg gegen die Ukraine abschneiden, desto mehr Zeit haben wir, um unser eigenes Haus in Ordnung zu bringen.
Der Chef der Armee spricht von zehn Jahren, die es braucht, um den Aufwuchs einer einigermassen einsatzfähigen Armee sicherzustellen. Das könnte zeitlich ungefähr aufgehen. Die durch die konkrete Niederlage und die westlichen Sanktionen geschwächten Russen werden kaum weniger als zehn Jahre brauchen, um strukturell für einen Angriff auf Westeuropa befähigt zu sein. Dass sie das als Ziel haben, ist mittlerweile offenkundig. An der Wiederherstellung unserer Verteidigungsfähigkeit darf keine Minute mehr gerüttelt werden.
«Die Gretchenfrage betrifft die rund 100 Panzer des Typs Leopard 2»
Wollen wir notfalls (und leider auch rasch entschlossen…) die Neutralität für einen solchen Zeitgewinn opfern? Und wie explizit dürfte dann unsere Unterstützung für die Ukraine ausfallen? Die lächerliche Zahl von 14'000 Geschossen Flabmunition steht dabei nicht im Vordergrund, höchstens als Fingerübung für Bundesrat und Parlament.
Die Gretchenfrage betrifft die rund 100 Panzer des Typs Leopard 2, eingelagert an angeblich geheimem Ort. Mit ein wenig Kampfwertsteigerung wären sie nicht nur bestens einsetzbar, sondern könnten vielleicht sogar das Kriegsglück wenden. Zugunsten der Ukraine. Zulasten der Russen, für die Westeuropa ein strategisches Ziel ist. Bis in zehn Jahren können wir die Panzer nicht mehr brauchen, dann sind sie definitiv veraltet.
Mit unserer Unterstützung würde der Krieg möglichweise abgekürzt. 100'000, vielleicht 1 Million Menschen könnten verschont bleiben. Was hält die Welt dereinst von uns, wenn wir auf den Panzern buchstäblich hocken bleiben, als Vorwand die Neutralität vorschieben und sie am Ende verschrotten müssen? Haben wir dann wirklich souverän gehandelt und im Sinne unserer Sicherheit? Umgekehrt: Was riskieren wir, wenn wir es tun? Besteht die Gefahr, dass wir durch eine solche Lieferung zur Kriegspartei mutieren?
«Eine Situation, wie sie Dürrenmatt nicht besser hätte ersinnen könne»
100 Panzer sind deutlich mehr als die 14 Stück aus Deutschland. Könnten wir nach einem solchen Schritt wieder zur guten alten Neutralität zurückkehren, oder müssten wir es den Finnen und Schweden gleichtun und uns unter das schützende Dach der Nato begeben? Würde man ein Dreiecksgeschäft, zum Beispiel mittels eines Verkaufs an die Polen, als neutralitätspolitische Schlaumeierei auslegen?
Fragen über Fragen, und leider sind sie nicht eindeutig zu beantworten. So gestaltet ist nun einmal ein Dilemma. Alles hat deutliche Nachteile oder Risiken – eine Situation, wie sie Dürrenmatt nicht besser hätte ersinnen können. Der ernsthafte Diskurs tut not.
«Panzer brauchen wir vielleicht in zehn Jahren»
Die zweite, etwas einfachere Herausforderung betrifft die Vorbereitung eines effektiven Schutzes gegen Bedrohungen aus der Luft. Sie können uns viel früher betreffen als jene am Boden, bei Lichte besehen schon heute. Oder etwas salopp gesagt: Panzer brauchen wir vielleicht in zehn Jahren, den Schutz des Luftraums sofort.
Man muss davon ausgehen, dass die Russen von den Chinesen, den Iranern und vielleicht auch von den Indern laufend mit entsprechenden Waffen beliefert werden. Erdgas und Erdöl spülen genügend Devisen herein, um satt zahlen zu können. Ein nach Osten gerichtetes Netzwerk aus Nachrichtenbeschaffungs- und Luftverteidigungsmitteln ist zwingend und dringend. Es muss weit vorgelagert sein.
«Über den Ostalpen klafft die grösste Lücke im europäischen Luftraum»
Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz lancierte im Sommer 2021 eine entsprechende Initiative unter dem Titel «Sky Shield». Angeblich ist die Initiative bereits wieder obsolet, aus welchen Gründen auch immer. Unter Umständen wäre eine entsprechende Anstrengung vonseiten eines neutralen (sic!) Landes mitten in Europa, aber mit klarer Exposition gegen Osten, zielführender. Österreich müsste a priori mit von der Partie sein. Denn über den Ostalpen klafft die grösste Lücke im europäischen Luftraum.
Bei vertretbarer Auslegung würde die Neutralität durch eine Sky Shield-Initiative sicher nicht tangiert. Denn die Vorbereitung einer gemeinsamen Luftraumverteidigung, auch wenn sie weit vorne platziert ist, verletzt keinerlei Neutralitätsrecht – sie kommt ja erst und nur zum Tragen, wenn dieser Luftraum verletzt wird und mithin der Verteidigungsfall eingetreten ist. Weshalb in aller Welt wird noch gezögert?
«Die Weltgeschichte findet heute statt»
Leopard 2, Sky Shield: Handeln tut not. Die Weltgeschichte findet heute statt, jetzt. Wir dürfen nicht mehr lange trödeln. Wer zu spät kommt, den bestraft die Geschichte (Gorbatschow).
Noch ein Wort an jene, denen die Unabhängigkeit unseres Landes besonders am Herzen liegt und Parteiprogramm ist: Eine Schweiz, die auch zu positiven Leistungen, ja vielleicht zu unverzichtbaren Beiträgen für seine europäische Umgebung in der Lage ist, wird länger unabhängig bleiben können als ein Land, das sich auf Absentismus beschränkt.
Sosehr die insbesondere in Paris und Berlin erhobenen Vorwürfe, die Schweiz würde als EU-Rosinenpicker negativ auffallen, deplatziert sind, sosehr ist es leider richtig, der Schweiz Nato-Rosinenpickerei im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik anzulasten. Ziel darf keinesfalls ein Nato-Beitritt sein, sondern ein ehrliches Austauschverhältnis für messbare Leistungen.
Konrad Hummler trat nach seinem Studium der Rechtswissenschaften in die Schweizerische Bankgesellschaft (heute UBS) ein, wo er zum Stab von Robert Holzach gehörte. Später, 1989, übernahm er mit Partnern die St. Galler Privatbank Wegelin, die in den Wirren des US-Steuerkonflikts zum Teil an die Raiffeisen-Gruppe verkauft und zum andern aufgelöst wurde. Nach dieser Zäsur erfolgte ein Neubeginn in Form der Firma M1, eines Think Tanks für strategische Zeitfragen. Heute hat er verschiedene Mandate, unter anderem ist er Verwaltungsratspräsident der Private Client Bank in Zürich.