LexisNexis untersucht die Ergebnisse der ersten Welle von Sanktionen gegen Russland. finews.ch nimmt sie genauer unter die Lupe.
Wer glaubt, dass die aktuelle Sanktionswelle nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine völlig unvorhersehbar und beispiellos war, hat der Geopolitik in den vergangenen zehn, vielleicht sogar zwanzig Jahren nicht besonders viel Aufmerksamkeit geschenkt.
Die Datenberatungsfirma «LexisNexis Risk Solutions» hat eine Infografik (PDF) veröffentlicht, die aufzeigt, dass der Konflikt Trends verstärkte, die bereits vorher vorhanden waren, auch wenn die Sanktionsaktivitäten nach dem Ausbruch der Feindseligkeiten nochmals extrem angezogen haben.
Die Infografik analysiert die Ereignisse zwischen dem 20. Februar und dem 24. März 2022 und stellt fest, dass die meisten der damals verhängten Sanktionen weitgehend auf bereits bestehenden Programmen der EU, Grossbritanniens und der USA basierten, wobei die Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 als Rechtsgrundlage für viele Sanktionen diente.
Ständige Aktualisierung der Liste
Die Analyse zeigt, dass es im Februar und März 40 Aktualisierungen der Sanktionslisten in Bezug auf Russland gab, was deutlich mehr ist als die 24 Aktualisierungen aller anderen Programme im selben Zeitraum. Dies führte zu 2’384 neu sanktionierten Personen und Einrichtungen, die mit dem Konflikt in Verbindung stehen, während es sonst nur 150 waren.
Es kam vor, dass die Aufsichtsbehörden die Listen mehrmals am Tag aktualisiert haben. In den Compliance-Abteilungen der Banken wuchs der Stapel der Warnungen, den sie abarbeiten mussten kontinuierlich - ganz zu schweigen davon, dass sie ihre Systeme mit den neuen Listen aktualisieren mussten.
«Niemand kann vorhersagen, wie sich die kommenden Monate entwickeln werden, aber die Geschwindigkeit und der Umfang der Aktivitäten der Aufsichtsbehörden in Bezug auf die Situation in der Ukraine haben bereits zu einem perfekten Sanktionssturm geführt, bei dem praktisch alle Arten von Sanktionen eingesetzt werden, um den Handel mit bestimmten Personen, Unternehmen, Flugzeugen, Schiffen, Sachwerten oder Immobilien einzuschränken», sagt Vincent Gaudel, Experte für Finanzkriminalität bei LexisNexis Risk Solutions, in einer Medienmitteilung.
Mulitilateralismus statt UN
Ein weiterer Trend, der laut LexisNexis durch den Krieg in der Ukraine «beschleunigt und verstärkt» wurde, ist das multilaterale Sanktionsregime. Damit werde versucht die Unfähigkeit des UN-Sicherheitsrats einen Konsens über jegliche Art von Massnahmen zu erzielen kompensiert. Angesichts des Vetorechts der ständigen Mitglieder - in diesem Fall Russland – ist eine Einigung hier kaum vorstellbar.
Um dies auszugleichen, haben in den letzten Jahren immer grössere Länderblöcke immer umfangreichere Programme aufgelegt, die sich zwar ähneln, aber nicht identisch sind. Darunter scheinen auch Länder zu sein, die im Allgemeinen keine Tradition der Verhängung unilateraler Sanktionen hatten, wie etwa die Schweiz. Aber auch andere Länder wie Island oder Singapur, gehören dazu.
Ein wichtiger Punkt, der gerne vergessen werde sei, dass es für Regierungen relativ einfach sei, Sanktionen und Beschränkungen zu verhängen, wie LexisNexis betont. Die Verantwortung für deren Einhaltung liege aber beim privaten Sektor und damit bei den Finanzinstituten.
Die Wirkung hinterfragen
Angesichts des jüngsten Anstiegs der Inflation, der Engpässe bei der Versorgung mit Lebensmitteln, insbesondere mit ukrainischem Getreide, und den gestiegenen Energiepreisen, gibt es im Westen jedoch auch Stimmen, die sich fragen, welche Folgen die Sanktionsmassnahmen haben.
Gegen das Regime in Nordkorea wurden von den USA in den 1950er Jahren die ersten Sanktionen verhängt, das sind rund 70 Jahre. Im Falle des Iran sind es 40 Jahre. Die Bereitschaft der Regierungen dieser Länder auf erneute Verschärfungen mit Wandel zu reagieren scheint nicht sonderlich gross.
Doch trotz des Fehlens erkennbarer, unmittelbarer Auswirkungen deutet die Infografik von LexisNexis darauf hin, dass die gegen Russland verhängten Sanktionen eine «dauerhafte Wirkung» haben werden. Sanktionen werden schnell verhängt, aber nur langsam wieder aufgehoben. Neben den Sanktionen umfasst das derzeitige Regime von Restriktionen gegen Russland auch ein SWIFT-Transaktionsverbot gegen grosse russische Banken, Verbote gegen die Zentralbank des Landes sowie weitreichende Einfuhr- und Ausfuhrverbote in und aus der EU, Grossbritannien, den USA und Kanada.
Umgehung von Sanktionen
Andere Stimmen im Westen scheinen überrascht zu sein, dass es Russland überhaupt möglich ist, das derzeitige Sanktionsregime zu umgehen, indem es Strohfirmen, verdeckt agierende Mittelsmänner und illegale Aktivitäten wie Schiff-zu-Schiff-Transfers von Öl auf hoher See nutzt. Ganz zu schweigen vom Einsatz digitaler Vermögenswerte, einschliesslich diverser Krypto-Vehikel.
Dabei wird vergessen, dass der Sanktions-Ring Lücken hat. Die beiden bevölkerungsreichsten Länder der Welt, China und Indien, haben sich nicht angeschlossen und eine Änfderung der Position scheint unwahrscheinlich. Und selbst wenn, wird oft vergessen, dass die privaten Akteure in diesen Ländern seit langem in der Lage sind, externe Beschränkungen zu umgehen, indem sie Scheinfirmen und Drittvermittler einsetzen, wie ein im Mai in der «Times of India» erschienenes Interview mit dem britischen Verteidigungsexperten Nick Reynolds andeutet.
China selbst hat eine menschenleere, dünn besiedelte direkte Grenze zu Russland. Das bedeutet, dass, wie auch im Fall Nordkorea, private Anstrengungen zur Umgehung von Sanktionen nicht einmal besonders kreativ sein müssen. Die chinesische Grenzstadt Dandong, etwa eine Meile jenseits der Grenze zu Nordkorea, dient dem Regime in Pjöngjang angeblich schon seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, als Durchgangsstation. So wurde beispielsweise die Bank von Dandong 2017 vom amerikanischen Finanzsystem abgekoppelt, ebenso wie Schifffahrtsunternehmen im benachbarten Hafen von Dalian, der nur gut 500 Kilometer entfernt liegt.
Zusätzliche Compliance-Auflagen
Was bedeutet das alles? Da der private Sektor dazu angehalten ist, die Massnahmen vollständig umzusetzen, bedeutet dies eine erhebliche zusätzliche Belastung für die Sanktionsspezialisten des Bankensektors und die Experten für Finanzkriminalität.
Das heisst, dass sie weit über die Aktualisierung der Listen und die Bearbeitung von Warnmeldungen bei neuen Treffern hinausgehen. Ein Grossteil der Arbeit, selbst in der Vermögensverwaltung, wird sich mit verwirrenden Geflechten auseinandersetzen müssen. Dabei geht es um die Prüfung der Eigentumsverhältnisse und der Geschäftsleitung von Mantelgesellschaften und Unternehmen, um die genaue Prüfung von Geldtransfers, Rechnungen oder Investitionen aus zweifelhaften und verschleierten Quellen.