Der Brexit hat für Grossbritannien unmittelbare Konsequenzen. Für die EU seien die Folgen indirekter, aber trotzdem fundamental, sagt der ehemalige SNB-Präsident Philipp Hildebrand.
Die EU steckt seit letztem Freitag in der tiefsten Sinnkrise vielleicht seit der Gründung der Montanunion 1951, der Vorläuferorganisation der EU. Der Grund für die Krise ist für Philipp Hildebrand, ehedem Präsident der Schweizerischen Nationalbank (SNB) und Vize-Präsident von Blackrock, klar: «Wir erleben einen sehr traurigen, aber auch einen sehr wichtigen Moment, einen Moment an dem Europa realisieren muss, dass es so nicht weitergehen kann.»
«Wenn es Europa nicht gelingt, mit einer nachhaltigen Wachstumsstrategie wieder Zuversicht zu schaffen, dann werden die Zentrifugalkräfte zunehmen. Die Zeit drängt», sagt Hildebrand in einem Interview mit dem deutschen «Handelsblatt» (Artikel zahlpflichtig).
Europa hat keine Wachstumsstrategie
Die Volkswirtschaften in der EU sind seit der Finanzkrise und dem Absturz in eine tiefe Rezession in 2009 kaum mehr gewachsen und dümpeln zwischen Wachstumsraten von 0 und 2 Prozent. Was dies für die Bevölkerung nicht nur in Griechenland, Spanien und Portugal, sondern auch für die Franzosen und eben auch viele Briten bedeutet, spricht Hildebrand deutlich an.
«In Frankreich ist zwischen 2004 und 2014 kumulativ kein einziger neuer Job im Privatsektor entstanden,» so der Banker, «seit der Finanzkrise sind zusätzlich acht Millionen Europäer einem Armutsrisiko ausgesetzt. Ein Teil der Frustration bezüglich der EU hat damit zu tun, dass Europa keine Wachstumsstrategie hat.»
Wachstum nicht Aufgabe der Zentralbanken
Anders als viele sozialdemokratische Politiker, sieht Hildebrand aber nicht etwa Institutionen wie die Europäische Zentralbank (EZB) in der Pflicht, sondern die Politik. So ist es laut Hildebrand nicht die Aufgabe der EZB, eine Wachstumsstrategie für die Eurozone zu entwickeln, sondern diejenige der Regierungen.
«Es liegt jetzt an den Politikern, eine neue Perspektive dafür zu entwickeln, wie in Europa endlich wieder Wachstum geschaffen wird», sagt der frühere SNB-Präsident.
Reformen unterschiedlich von Land zu Land
Hildebrand, der in der Schweiz auch nach seinem wenig rühmlichen Abgang als Präsident der SNB ein hohes Ansehen geniesst, benennt auch mögliche, dringliche Reformen, die aber je nach Mitgliedsland unterschiedlich aussehen sollten.
«Frankreich braucht beispielsweise dringend eine Liberalisierung des Arbeitsmarktes», so Hildebrand, ein Thema das ja auch die jetzige sozialistische Regierung von François Hollande in einen tiefen Konflikt mit der eigenen Wählerschaft getrieben hat.
Und für Deutschland sieht Hildebrand einen «stärkeren Einsatz» der Fiskalpolitik, um eine Wachstumsstragie in die Wege zu leiten.
Banken als Achillesferse
Die Banken selber hätten weniger Grund, den Turbulenzen gelassen entgegenzublicken, warnt Hildebrand und bezeichnet die Geldhäuser als «eine Achillesferse», weil viele Banken noch immer «enorme strukturelle Probleme haben».