Die Goldman-Sachs-Chefs fanden die Kündigung ihres Aktienderivate-Chefs für Europa in der «New York Times». Der Brief könnte eine neue Debatte auslösen.

«Warum ich Goldman Sachs verlasse»: So der Titel eines Artikels, den die «New York Times» heute früh zur europäischen Zeit ins Internet stellte. Greg Smith, Head Equity Derivatives EMEA mit Arbeitsplatz in London, diagnostiziert darin einen dramatischen Kulturverfall – und kommt zum Schluss, dass Goldman Sachs ihre Kunden notorisch über den Tisch ziehen wolle. Die Kunden, so die Darstellung, gelten intern als «Muppets», deren Interessen dem eigenen Verdienst untergeordnet werden – dies im Gegensatz zur stolzen Kultur, die Goldman Sachs einst gross gemacht habe.

Smith benannte auch gleich die Hauptverantwortlichen am von ihm geschilderten Niedergang der Moral: Es sei das Spitzenduo mit CEO Lloyd Blankfein und Chairman Gary D. Cohn. Sie hätten in den letzten Jahren die Unternehmenskultur aus den Augen verloren  (mehr zu Smiths konkreten Vorwürfen lesen Sie hier).

Der Artikel wurde sofort zum grossen Thema in der City wie an der Wall Street, und Goldman Sachs musste bestätigen, dass Mitarbeiter Smith seit heute früh Londoner Zeit nicht mehr für das Unternehmen arbeitet.

«Nicht die Art, wie wir unsere Geschäfte tätigen»

Die Attacke aus dem Innern kam offenbar unerwartet, und in einem ersten Communiqué äussert sich die Bank knapp: «Wir gehen nicht einig mit den geschilderten Ansichten, und diese reflektieren nicht die Art, wie wir unsere Geschäfte tätigen. Nach unserer Ansicht sind wir bloss erfolgreich, wenn unsere Kunden erfolgreich sind. Diese fundamentale Wahrheit ist das Herzstück unseres Benehmens.»

Das Problem ist allerdings, dass das von Smith gemalte Bild einen weit verbreiteten Eindruck zu bestätigen scheint. So twitterte Charles Gasparino, der bekannte Anchorman von Fox: «Saure Äpfel für GS-Banker. Der Zyniker in mir sagt: Er spricht aus, was wir alle wussten.» Und die «New York Times» kommentierte: «Mr. Smith sagt offen, was andere privat flüstern. Dies ist der Grund, weshalb sein Schrei des Herzens so provokativ sein mag.»

Wertpapiere, die auf Verlust getrimmt waren

Ähnlich äusserte sich Tracy Corrigan, die Chefredaktorin von «Wall Street Journal Europe». In einem Fernsehinterview sagte sie: Das Problem für Goldman Sachs liege darin, dass das alte Thema erneut aufkommt – nämlich dass sich die Bank nicht um ihre Kunden kümmere. Denn gerade dieser Vorwurf sei nicht neu: Goldman Sachs musste sich bekanntlich im Nachklang zur Finanzkrise auf ein teures Settlement einlassen mit Kunden, die offenbar übervorteilt worden waren.


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Wie zur Bestätigung dieses Eindrucks nahmen zahlreiche Medien den Brief von Smith sogleich zum Anlass, um an jene älteren – offenbar bestätigenden – Fälle zu erinnern. «Die Bank erlitt einen weiteren Schlag vor zwei Jahren, als die US-Behörden sie beschuldigten, mit Unterstützung des Hedge-Fund-Magnaten John Paulson ein Wertpapier geschaffen zu haben, das zum Scheitern konstruiert war» – so rekapitulierte heute die «Financial Times». Und weiter: «Die Investoren verloren 1 Milliarde Dollar, während Mr. Paulson gewann und Goldman lukrative Honorare einfuhr.»

Die Frage lautet: Hat sich Wall Street wirklich gebessert?

Und so sind die Chancen gross, dass hier eine alte Debatte wegen Greg Smith weiterkochen wird. Die «New York Times» kommentierte den im eigenen Blatt abgedruckten Kündigungsbrief mit der Bemerkung: «Wallstreet-Händler kommen und gehen, aber wenige gingen je mit dem Flair von Greg Smith. Die Art, wie er Goldman Sachs verlässt, und das, was er dabei zu sagen hatte, könnten eine Debatte lancieren über die Frage, wie sehr sich Wall Street nach der Finanzkrise wirklich gewandelt hat.»

Und dies ist eine Frage, die vielleicht auch die europäischen Grossbanken nun erneut zu hören bekommen könnten.

Kurzfristig entscheidend ist ein anderer Aspekt: Nämlich was solche Vorwürfe bei den Kunden von Goldman Sachs bewirken werden. Auf «Forbes Online» malte sich ein Kommentator aus, was heute früh manchem Institutionellen Anleger durch den Kopf gehen mag: «Stellen Sie sich den Anlagechef einer Pensionskasse oder einer Nonprofit-Organisation oder irgendeiner anderen Institution vor, der Greg Smiths Artikel in der Times gelesen hat. Wie soll er nun vor seinen Verwaltungsrat treten und sagen: 'Ich sehe keinen Grund, weshalb Goldman Sachs unsere Anlagen nicht weiterhin tätigen soll"?»

Eine Flucht in grösserem Stil scheine unausweichlich, so «Forbes». Das Fazit stand denn auch bereits im Titel: «To Save Goldman Sachs, Lloyd Blankfein must go».