Wall-Street-Firmen haben ganze Abteilungen in Marsch gesetzt, um homosexuelle Talente zu sich zu holen. Doch nun legt sich ein Schatten über das liberal auftretende Finanzmekka.
Es verschlage ihm selber die Sprache, sagt David Ross, angesichts der Fortschritte der «Industrie» bei der Akzeptanz von schwulen Mitarbeitenden. Ross weiss, wovon er spricht. Der Banker hat bei beinahe sämtlichen grossen Adressen der Wall Street gedient und lebt mit seinem Ehemann im US-Bundesstaat New Jersey.
Gegenüber den Reportern des Branchenmagazins «Institutional Investor» zieht er ein positives Fazit: Der Schutz der lesbischen, schwulen, bisexuellen und Transgender-Gemeinschaft (LGBT) sei mittlerweile sehr solide, findet er.
Börse läutet «Gay Pride» ein
Tatsächlich läutete vergangenen Juni die Handelsglocke der New Yorker Börse den «Gay Pride»-Monat ein. Ein Geläut, dass die Rekrutierungs-Abteilungen der Wall-Street-Häuser allerdings nicht brauchten, um auf das Thema aufmerksam zu werden.
Längst liefern sich die Banken und Finanzboutiquen dort einen Run auf die besten LGBT-Talente und suchen teilweise schon unter College-Abgängern nach diesem Profil. Die Personalchefs wissen, dass die besten Leute jene Konzerne bevorzugen, die für einen liberalen Umgang mit den Mitarbeitenden bekannt sind.
Das hat einen richtigen Wettstreit um Offenheit ausgelöst: 79 amerikanische Finanzhäuser finden sich auf dem 2018 Corporate Equality Index wieder. Selbst so traditionsbewusste Häuser wie die mächtige Investmentbank Goldman Sachs können sich dem Trend nicht verweigern.
Im Gegenteil: Die Goldmänner sorgten für einiges Aufsehen, als sie dieses Jahr Praktikanten erstmals danach fragten, ob sie ihre sexuelle Orientierung offenlegen würden. Das Institut bezeichnet solche Offenheit mittlerweile als Grundpfeiler der Firmenkultur.
CS machte Diversity zum Kern
Unter den an der Wall Street präsenten Schweizer Instituten hat sich in den letzten Jahren besonders die Credit Suisse (CS) um die LGBT-Gemeinschaft bemüht. Unter der Ägide der ehemaligen Marketing- und Personalchefin der Bank, der Amerikanerin Pamela Thomas-Graham, wurde die «Diversity» zum Kern der Unternehmenskultur. 2013 wurde die CS (zusammen mit der Erzrivalin UBS) als bester LGBT-Arbeitgeber ausgezeichnet, und Mitarbeitende tragen diese Kultur nun auch nach draussen.
Trotz dieses Anstosses aus Übersee suchen bisher aber nur wenige Schweizer Banken explizit nach Beratern aus der LGBT-Gemeinschaft, wie finews.ch berichtete.
Im Bundesstaat New York dürfte die liberale Haltung der wichtigen Finanzindustrie dazu beigetragen haben, die Räder in der Politik in Bewegung zu setzen: Seit 2011 erkennt der US-Bundesstaat im Marriage Equality Act gleichgeschlechtliche Ehen als gleichwertig an. Ein Grund mehr für Homosexuelle, die Wall Street zu ihrem Lebensmittelpunkt zu machen.
Angst vor Geschäftsreisen nach Nahost
Nur: Fast kein Sektor ist dermassen globalisiert wie die Finanzindustrie. Dass bedeutet, dass sich schwule Banker mit Kundenkontakt fast zwangsläufig aus dem liberalen Umfeld in New York herauswagen müssen.
Und dort finden sie ganz andere Zustände vor. Laut Erhebungen schrecken etwa in Singapur 72 Prozent der Homosexuellen vor einem «Coming Out» im Beruf zurück. In Hongkong liegt die Quote bei 75 Prozent, in Russland gar bei 80 Prozent.
Laut «Institutional Investor» getrauen sich schwule Wall-Street-Banker erst gar nicht in Destinationen wie Nahost.
Auftrieb für die Ewiggestrigen?
In den USA schweigt hingegen im Schnitt jeder zweite im Beruf über seine sexuelle Ausrichtung. Das ist immer noch eine Menge, und das Verhältnis könnte sich künftig verschlechtern. Denn mit der Wahl des Republikaners Donald Trump zum US-Präsidenten glauben auch in den Banken die Ewiggestrigen, Auftrieb zu bekommen.
«Endlich können wir wieder sagen, dass uns Schwule unangenehm sind», zitiert der Bericht einen ranghohen Banker. Damit besteht zumindest die Gefahr, dass die Wall Street wieder in die überwunden geglaubten «Old Boys»-Muster zurückfällt.
Bei Bankern wie Ross bleibt jedenfalls ein Quäntchen Unsicherheit bestehen. Das Bild seines Ehemanns stellt er jedenfalls nicht auf seinem Pult auf.