Was geht am Ölmarkt eigentlich vor? Und warum dürften insbesondere ETFs dafür sorgen, dass es in den nächsten Tagen noch zu einigen happigen Verlusten kommt? Eine Einschätzung Alberto Tocchio von Colombo Wealth.
Herr Tocchio, warum notieren die Ölpreise in den USA negativ?
Im Gegensatz zu Brent werden die amerikanischen WTI-Ölkontrakte durch physische Öllieferungen abgewickelt. Das heisst, der Eigentümer des Vertrags erhält auf Termin die Barrel Rohöl, die er gekauft hat. Im Ölmarkt gibt es allerdings eine grosse Anzahl von Finanzakteuren, die keine physische Lieferung entgegennehmen können, so dass sie ihre Terminkontrakte vor Ablauf an physische Akteure wieder abstossen müssen.
Die Ölproduzenten wiederum bezahlen ihre Käufer dafür, dass sie ihnen die Fässer abnehmen, weil ihre Lagerstätten bereits voll sind. Auf dem Tiefststand des Markts am vergangenen Montag hätte eine Ölgesellschaft rund 40 Dollar für jedes Barrel Öl bezahlt, das jemand genommen hätte.
«Das Überangebot an Öl ist besonders in den USA akut»
Die Käufer müssen jedoch die Kosten für den Transport von der Quelle zu einem Verschiffungshafen oder einer Lagereinrichtung einkalkulieren, wo es unter Umständen bis zu sechs Monate lang gelagert wird, was mit erheblichen Mehrkosten verbunden ist. Käufer mussten also darauf wetten, dass die Ölpreise später im Jahr steigen, um eine Rendite für ihre Investition zu erzielen. Doch davon gingen sie nicht aus. Darum kam es zum Preiszerfall.
Was bedeuten negative Preise?
Das Überangebot an Öl ist besonders in den USA akut, wo täglich etwa zehn Millionen Barrel Öl produziert werden, obschon dort die Öltanks bereits gefüllt sind und die Ölgesellschaften verzweifelt versuchen, ihre überschüssigen Barrel loszuwerden.
In anderen Regionen, etwa in Grossbritannien, liegen die Ölpreise zum Teil immer noch über Null, weil der Transport günstiger ist. Auch der Zugang zu den Häfen ist leichter. Das gleicht die negativen Ölpreise in den USA langfristig wieder aus, so dass die negativen Notierungen in den USA nur von beschränkter Dauer sein werden. Es wird also künftig nicht so sein, dass wir unser Auto gratis auftanken können!
Trotzdem, welchen Einfluss haben die negativen Notierungen auf den Benzinpreis?
Heute beginnen die Ölhändler mit dem Handel von Fässern, die im Juni geliefert werden. Dabei wird erwartet, dass diese Mengen wieder höhere Preise erzielen werden. Ab 1. Mai werden wir zudem das koordinierte Angebot der OPEC+ kennen und auf dem Markt haben. Das ist insofern interessant, weil immer mehr Unternehmen ihre Bohrlöcher schliessen und so das Angebot reduzieren.
«Eine langsame Überwindung der Viruskrise dürfte für die Ölproduzenten bis 2021 finanzielle Schmerzen bedeuten»
Wir können daher eine deutliche Erholung der Preise am Ölspotmarkt erwarten. Wichtig ist aber nicht nur die Frage des Angebots, sondern auch der Nachfrage.
Inwiefern?
Der Ölpreis wird davon abhängen, wie schnell die Nachfrage nach Treibstoff im Verkehr steigt. Ein rasches Ende des Lockdowns würde eine Erholung natürlich beschleunigen, während eine langsame Überwindung der Viruskrise für die Ölproduzenten bis ins Jahr 2021 weitere finanzielle Schmerzen bedeuten dürfte.
Was bedeutet dies für Finanzinvestoren?
Nur diejenigen, die eine physische Lieferung annehmen können, können daraus auch einen finanziellen Gewinn ziehen. Die jüngsten Preisreaktionen zeigen uns jedoch, dass es momentan nur eine sehr kleine Gruppe an Marktteilnehmern gibt (wenn überhaupt), die dazu in der Lage ist.
Gibt es weitere Massnahmen von einzelnen Börsen oder der Opec?
Die amerikanische Options- und Terminbörse CME in Chicago schlägt vor, bestimmte ETFs auf den Ölpreis zu begrenzen oder sogar zu schliessen, um ein neuerliches Risiko von negativen Preisen zu verhindern. Unter diesen Prämissen ist zu erwarten, dass es in den nächsten Stunden und Tagen noch zu einigen extremen Verlusten am Ölmarkt kommen wird.
Die OPEC ihrerseits diskutiert über zusätzliche Massnahmen, die sie an ihrem Treffen vom 10. Mai beschliessen will. Und US-Präsident Donald Trump hat die Energie- und Finanzminister beauftragt, einen Plan zur Bereitstellung von Finanzspritzen für die amerikanische Öl- und Gasindustrie auszuarbeiten.
Alberto Tocchio ist seit 2017 Chief Investment Officer (CIO) beim Tessiner Vermögensverwalter Colombo Wealth. Er studierte Wirtschaftswissenschaften an der Carlo Cattaneo Universität in Italien und erlangte ein Investment Management Certificate in London. Seine berufliche Karriere startete er im Jahr 2000 bei Kairos Investment Management in London, wo er zunächst im Handel und später als Fondsmanager arbeitete. Im August 2017 wechselte er zur Firma Heron Asset Management, die 2019 mit Colombo Wealth fusionierte.