Vom Trend hin zu einer bargeldlosen Gesellschaft profitieren spezialisierte Dienstleister und auch Detailhändler. Bundesrat und Nationalbank beteuern, am Bargeld und damit an der freien Wahl der Zahlungsmittel festhalten zu wollen. Dem harten Kern der Bargeldverfechter genügt das nicht.
Dass die Coronakrise im Jahr 2020 dem bargeldlosen Zahlungsverkehr international einen Wachstumsschub verliehen hat, ist bekannt. Damals empfahl das Bundesamt für Gesundheit auch Herrn und Frau Schweizer, beim Begleichen von Zahlungen tunlichst auf Münzen und Banknoten zu verzichten, um so Infektionsrisiken zu reduzieren. Der Hinweis, bargeldlose Zahlungsmittel würden quasi medizinisch indiziert bevorzugt, schmückte darauf hin jahrelang viele Kassen im ganzen Land.
Die Ansteckungsgefahr wurde dadurch jedoch mitnichten reduziert – Ende 2022 hielt der Bundesrat in seinem Bericht «Die Akzeptanz von Bargeld in der Schweiz» fest, internationale Untersuchungen hätten bald gezeigt, dass von Münzen und Noten keine solche Gefahr ausgehe und die Ängste folglich unbegründet gewesen seien.
Kundenkarten sind interessanter als Münzen und Noten
Tatsächlich reduziert wurde hingegen die Verwendung und Akzeptanz des Bargelds im Alltag, wozu auch die Anbieter unbarer Zahlungsmittel massgeblich beitrugen, welche die Gunst der Stunde zu nutzen wussten (was ihnen nicht zu verdenken ist).
Aber auch Detailhandel und Dienstleister haben mitunter ein vitales Interesse, vom Bargeld wegzukommen. Dessen Haltung verursacht ihnen erstens Kosten. Zweitens versprechen sie sich von unbaren Zahlungsmitteln – insbesondere dann, wenn eigene Kundenkarten zum Einsatz gelangen – eine stärkere Kundenbindung und mehr Informationen über das Konsumentenverhalten. Das verspricht, im Marketing-Jargon, eine künftig noch bessere «Customer journey».
Twint knackt Millionengrenze
Und die Veränderungen beim Zahlungsverhalten gehen weiter. So hat Twint am Montag bekanntgegeben, dass seit Frühling (als die Funktion erstmals zur Verfügung gestellt wurde) bereits über 1 Million Kundenkarten von 650'000 Benutzern in der Bezahl-App hinterlegt worden seien. Derzeit ermöglichten 35 Händler die Hinterlegung, darunter die beiden Riesen Coop (Supercard) und Migros (Cumulus).
Offenbar empfinden etliche Konsumenten den Griff ins eigene Portemonnaie zur Kundenkarte (oder zur Debit- oder Kreditkarte) als zu anstrengend und zücken stattdessen lieber ihr Mobiltelefon. Der Bezahldienst Twint profitiert von diesem Trend – und mit ihm seine Eigentümer: die Finanzinstitute Waadtländer Kantonalbank, PostFinance, Raiffeisen, UBS sowie ZKB, die Schweizer Finanzmarktinfrastrukturbetreiberin SIX und der Zahlungsverkehrsdienstleister Worldline.
SNB lanciert vierte Zahlungsmittelumfrage
Die veränderten Zahlungsgewohnheiten sind auch der Schweizerischen Nationalbank (SNB) aufgefallen, der Monopolistin für Notenbankgeld und damit auch für Banknoten (die Münzen werden von Swissmint geprägt, die SNB ist aber für die Versorgung verantwortlich). Um ein besseres Bild von den Entwicklungen zu bekommen, führt sie regelmässig eine Zahlungsmittelumfrage bei Privatpersonen durch. Die Premiere datiert von 2017; die Umfrage wurde 2020 sowie 2022 erneut erhoben, und erst vergangene Woche hat die SNB angekündigt, dass sie auch 2024 durchgeführt werden soll.
In den kommenden Monaten werden 2000 in der Schweiz wohnhafte Personen zu ihren Zahlungsgewohnheiten befragt. Dabei geht es um die Motive der Zahlungsmittelwahl, die Akzeptanz an Verkaufspunkten und die Nutzung neuer Bezahlverfahren. Die SNB will damit Veränderungen in der Nutzung unterschiedlicher Zahlungsmittel über die Zeit erkennen. Die Ergebnisse werden jeweils im Folgejahr publiziert.
Rhetorik und runder Tisch
Martin Schlegel, heute noch Vize und ab Oktober Präsident des Direktoriums der SNB, rief bereits in einem Referat im November 2022 dazu auf, der Bargeldinfrastruktur Sorge zu tragen und eine Negativspirale zu vermeiden, damit der Bürger weiterhin die freie Wahl des Zahlungsmittels hat. Zudem hat die SNB zusammen mit der Eidgenössischen Finanzverwaltung die für die Bargeldversorgung zentralen Akteure sowie die Wirtschafts- und Konsumentenverbänden zu einem runden Tisch zum Thema Bargeldversorgung zusammengerufen.
Der erste derartige Anlass fand im Oktober 2023 statt. Ziel der Übung (die regelmässig stattfinden soll) ist es, frühzeitig einen allfälligen Handlungsbedarf zu identifizieren, um so rechtzeitig einer möglichen Negativspirale im Bargeldsystem entgegenzuwirken.
Bargeld ist zum Politikum geworden
Dass sich die SNB deutlicher positioniert, dürfte auch damit zu tun haben, dass die Bargeldfrage die Politik erreicht hat. Im Februar 2023 wurde die Volksinitiative «Bargeld ist Freiheit» eingereicht. Sie fordert, dass Münzen und Noten stets in ausreichender Menge vorhanden sind und dass ein allfälliger Ersatz des Frankens durch eine andere Währung Volk und Ständen vorzulegen wäre.
Der Bundesrat teilt diese Anliegen, erachtet aber den Initiativtext als «zu wenig präzise», und unterbreitet stattdessen einen Gegenvorschlag, wie seiner Botschaft vom Juni 2024 zu entnehmen ist. Wesentlich kontroverser dürfte die zweite Initiative aus dem Lager der Verfechter von Barzahlungen sein, die den programmatischen Titel «Wer mit Bargeld bezahlen will, muss mit Bargeld bezahlen können!» trägt und für die noch bis in den September hinein die Unterschriftensammlung läuft.
Annahmepflicht minutiös in der Verfassung regeln
Diese schärfere Bargeldinitiative versucht, die bereits im Gesetz über die Währung und die Zahlungsmittel verankerte Annahmepflicht von Münzen und Noten (die in der Praxis aber kaum durchgesetzt wird) gewissermassen auf Verfassungsstufe zu konkretisieren. Dazu werden insbesondere öffentliche Dienstleister und der Detailhandel gezwungen, Bargeld als Zahlungsmittel entgegenzunehmen.
Die Initiative trifft damit einen wunden Punkt, ist doch die allgemeine Akzeptanz von Bargeld in letzten Jahre zunehmend relativiert worden. Ein Beispiel ist der öffentliche Verkehr, den die Betreiber bargeldlos machen möchten (mit Postauto als Vorreiterin), ein anderes der immer häufiger zu sehende Hinweis «No cash» bei Läden, Restaurants und an Festivals.
Flächendeckende Versorgung mit Bezugsstellen sichern
Die Initiative verlangt ausserdem, dass der Bund eine flächendeckende Versorgung mit Banknoten garantiert. Der Initiativtext macht auch gleich detailverliebt klar, was genau darunter zu verstehen ist. In den Städten müsste alle 2 Kilometer eine Möglichkeit zum Bezug von Banknoten zur Verfügung stehen. Auch in Gemeinden mit 1'000 und mehr Einwohnern gäbe es neu zwingend mindestens eine Bezugsstelle, und für Bewohner kleinerer Gemeinden dürfte der Weg dazu mit dem Auto oder öffentlichen Verkehrsmitteln nicht länger als 15 Minuten dauern.
Auch hier treffen die Initianten einen Nerv, nimmt doch seit einiger Zeit die Zahl der Bancomaten ab. Ob indes das enge Korsett auf Verfassungsstufe der Weisheit letzter Schluss ist, sei dahingestellt. Klar ist jedoch, dass diejenigen Akteure, die Bargeld verarbeiten und verteilen, von einer Annahme profitieren würden. Auch sie gehören zum Ökosystem der Dienstleister und Anbieter im Zahlungsverkehrsgeschäft, sind in der Regel allerdings signifikant weniger mitteilsam als viele andere.
Wie «voted» die Generation Smartphone?
Dass der Bezahldienst Twint heute mit insgesamt 5 Millionen Nutzern über die Hälfte der Schweizer Bevölkerung zu seinen Kunden zählt, spricht übrigens nicht zwingend gegen die Mehrheitsfähigkeit der zweiten Bargeldinitiative.
Ein Teil der Twint-affinen Bürger im allgemeinen und der Generation Smartphone im besonderen könnte versucht sein, auf den Gang an die Urne respektive das Einwerfen des Stimmcouverts im Postbriefkasten zu verzichten, weil der Bezahldienst ja weiterhin unverändert eingesetzt werden darf. Und andere wiederum könnten sogar mit der Initiative sympathisieren, weil sie «technologieoffen» sind und die Wahlfreiheit beim Zahlungsmittel prinzipiell schätzen, selbst wenn sie selber nur selten davon Gebrauch machen.