Die Inflation habe die Notenbanken auf dem falschen Fuss erwischt, sagt Joseph Pinto von Natixis Investment Managers im Interview mit finews.ch. Daraus lasse sich ableiten, dass wir uns mit tieferen Wachstumsraten weltweit abfinden müssten, was wiederum zu einer tieferen Performance an den Märkten führen dürfte.
Herr Pinto, muss man seit dem Ausbruch des Kriegs in der Ukraine nachhaltige Finanzanlagen in neuem Lichte betrachten?
Nein, das denke ich nicht. Das Bewusstsein für den ESG-Ansatz ist aufgrund der dramatischen Ereignisse in der Ukraine eher noch gewachsen. Überall auf der Welt sind Investorinnen und Investoren auf das Thema der Nachhaltigkeit sensibilisiert. Zugegeben, das ESG-Konzept ist nicht überall gleich verbreitet. In einzelnen Regionen werden beispielweise eher das E – es steht für Environment (Umwelt) – oder das S – es steht für Social (Soziales) – stärker gewichtet.
Mit anderen Worten: ESG als Gesamtkonzept hat sich offenbar noch nicht vollständig durchgesetzt. Lässt sich daraus folgern, dass man auch die Kriegsrisiken wie in der Ukraine unterschätzt oder sogar ignoriert hat?
Letztlich geht es um das Verständnis, was man mit dem ESG-Ansatz bewirken will. Und das ist so weit klar. Es geht um das Bestreben, auch beim Investieren dafür zu sorgen, dass wir nachhaltig die Umwelt schonen und unseren Beitrag dazu leisten, dass es unserem Planeten wieder besser geht. Insofern muss man diesen Ansatz sehr langfristig sehen. Es ist ein säkularer Trend, der nicht primär nur auf mehr Performance abzielt.
Weshalb?
Wie gesagt, es geht um Umweltimplikationen, die einen immer grösseren Einfluss auf die Unternehmenswelt haben. Auch die Investorinnen und Investoren müssen sich damit auseinandersetzen. Als Asset Manager müssen wir diese tiefgreifenden Veränderungen erkennen, weil sie für die Bewertung von Unternehmen von zentraler Relevanz sind.
«Das S von ESG variiert weltweit am stärksten, weil es sehr stark von der jeweiligen Kultur beeinflusst ist»
Daraus lässt sich dann die Performance ableiten, die – wie es diverse Analysen längst illustriert haben, nicht schlechter, sondern mittlerweile sogar besser ist als herkömmliche Anlagestrategien. Mit anderen Worten, es geht nicht bloss um Preis- oder Kursentwicklungen, sondern um einen konsistenten Nachhaltigkeitsansatz.
Das ist gewissermassen eine neue Denkweise – letztlich mit dem Anspruch auf eine bessere Welt. Müsste man dann nicht das S, also das Soziale, beim Investieren stärker gewichten?
Das S von ESG variiert weltweit am stärksten, weil es sehr stark von der jeweiligen Kultur beeinflusst ist. In Europa hat das S beispielsweise viel mit der Geschlechtervielfalt (Gender Diversity), insbesondere mit der Frauenförderung zu tun. In den USA dagegen geht es vor allem um die Berücksichtigung von Minderheiten. In Asien wiederum steht beim S vor allem der Schutz von Arbeitsrechten im Fokus. Das muss man sich vor Augen halten, wenn man die ESG-Kriterien handhabt.
Kommt hinzu, dass die Anlagegesellschaften (Affiliates) unter dem Dach von Natixis unabhängig operieren und entsprechend auch die Kriterien je nach Herkunft und Ausrichtung anwenden. Dieser hohe Grad an intellektueller Freiheit ist uns als Gruppe wichtig, weil wir so die Eigenheiten der verschiedenen Firmen bewahren und unseren Kundinnen und Kunden eine ganze Palette an Investmentstrategien offerieren können.
Welchen Einfluss hat die veränderte Geldpolitik der Zentralbanken auf Ihre Anlagestrategien?
Die Inflation hat die Notenbanken auf dem falschen Fuss erwischt. Sie waren daran, ihre Tiefzinspolitik sukzessive zu beenden und die Zinsen entsprechend zu erhöhen. Die jüngsten Ereignisse rund um den Krieg in der Ukraine und die fortgesetzte Covid-Problematik in China führten jedoch zu einem radikalen Teuerungsschub, so dass die Zentralbanken viel drastischer hätten eingreifen müssen. Das haben sie teilweise getan, stecken nun aber in einem Dilemma.
Warum?
Weil sie mit einer fortgesetzten Zinserhöhungspolitik die wirtschaftliche Entwicklung enorm beeinträchtigen dürften. Das bringt vor allem wachstumsschwache Staaten in erhebliche Schwierigkeiten. Alles in allem lässt sich daraus ableiten, dass wir uns kurz- bis mittelfristig mit tieferen Wachstumsraten weltweit abfinden müssen, was wiederum zu einer tieferen Performance an den Märkten führen dürfte.
«Firmen, die in den Bereichen Energie- und Klimawandel aktiv sind, werden an Bedeutung gewinnen»
Entsprechende Anpassungen haben unsere Affiliates in ihren Asset-Allokationen bereits vorgenommen. Und wie sich zeigt, ist das Umfeld nicht per se schlecht. Einzelne Investment-Klassen laufen nach wie vor sehr gut.
Woran denken Sie in diesem Zusammenhang?
Etwa an Privatmarkt-Anlagen, die nach wie vor sehr erfreulich «performen», und zwar wenig korreliert mit der Börse. Insgesamt sehe ich auch keine Alternative zu Aktien, zumal wir nun auf einem langfristigen Zinserhöhungszyklus eingeschwenkt haben. Natürlich navigieren wir derzeit in schwierigen Zeiten, aber am grundsätzlichen Ansatz des Investierens hat sich nichts geändert. Viele Investoren haben ihre Portfolios bereits neu ausgerichtet und dabei ihr Risiko heruntergefahren. Das hat zu den teilweise massiven Kursrückgängen geführt. Doch allmählich pendelt sich das ein.
Auf welche wichtigen Veränderungen muss sich die Investorenwelt einstellen?
Firmen, die in den Bereichen Energie- und Klimawandel aktiv sind, werden an Bedeutung gewinnen – gerade vor dem Hintergrund der ESG-Thematik. Dass sich der Westen aus der Abhängigkeit von russischem Öl und Gas löst und nach Alternativen sucht, wird zusätzlich einen enormen gesellschaftlichen Effekt zeitigen und neue Anlagechancen hervorbringen. Fest steht: Anlage-Know-how wird in dieser veränderten Welt noch stärker gefragt sein – um Megatrends frühzeitig zu erkennen und neue Strategien zu entwickeln, etwa als Inflationsschutz oder im Umfeld steigender Zinsen.
Welche Rolle spielt die Schweiz für Natixis?
Sie ist ein Schlüsselmarkt, weil hierzulande riesige Vermögenswerte liegen, dies aufgrund der vielen Banken, Versicherungen, Family Offices und anderen institutionellen Anlegern, die zum Teil weltweit aktiv sind. Das erschliesst uns Geschäftsbeziehungen, die uns rund um den Globus zugutekommen.
«Ich möchte betonen, dass die Schweizer Kundinnen und Kunden im institutionellen Bereich sehr ESG-affin sind»
In der Vergangenheit haben wir mit unseren Büros in Zürich und Genf vor allem das Fondsgeschäft forciert; nun möchten wir unserer institutionellen Klientel verstärkt auch massgeschneiderte Lösungen anbieten. Zu diesem Zweck werden wir personell ausbauen.
Last but not least möchte ich auch betonen, dass die Schweizer Kundinnen und Kunden im institutionellen Bereich sehr ESG-affin sind. Das ist ein weiterer Vorteil für uns, da wir dieses Thema über einzelne Affiliates bereits seit mehr als 30 Jahren abdecken, wie mit Mirova zum Beispiel.
Wie gross ist Ihr Engagement in Russland, und was geschieht damit?
Meines Wissens hatten wir keine Kunden in Russland und auch keine Präsenz. Unser Exposure in Russland war minim.
Dann richten wir unser Augenmerk doch auf einen grösseren Markt: Asien. Wie beurteilen Sie die Entwicklung dort, wo die Situation seit dem Ausbruch von Corona auch nicht einfacher geworden ist?
Seit dem Markteintritt im 1998 sind wir in Asien mittlerweile in sieben Ländern präsent, unter anderem in Australien und in Schanghai. Wir verwalten im asiatischen Markt rund 68 Milliarden Dollar an Kundengeldern.
Inwiefern haben die zum Teil sehr strengen Covid-Restriktionen Ihre Geschäftstätigkeit beeinträchtigt?
Die Reisetätigkeit unserer Mitarbeitenden wurde massiv eingeschränkt, und sie ist es teilweise immer noch, zumal die Restriktionen von Land zu Land verschieden sind. Das erschwert die Entwicklung. Wie anderen Unternehmen aus der Finanzbranche ist es uns aber auch gelungen, auf die digitalen Kommunikationsmöglichkeiten umzusteigen. Das hat uns sehr geholfen.
«Wir haben zwar unseren asiatischen Hauptsitz in Hongkong, aber unsere Präsenz ist relativ bescheiden»
Die unerwartet rasche Bereitschaft der Kundinnen und Kunden, diese Kanäle zu akzeptieren, war beeindruckend und hat im Kundenkontakt vieles ermöglicht, was auch nach dem Ende der Corona-Pandemie Bestand haben wird. Natürlich hoffe ich, dass sich die Situation in den nächsten Monaten entspannen wird, so wie das in Australien zuletzt auch der Fall war.
Hongkong ist in mehrfacher Hinsicht unter Druck. Wegen Covid, aber auch aufgrund des wachsenden Einflusses Chinas, was bereits viele Firmen dazu bewogen hat, ihre Ressourcen nach Singapur zu verlagern. Wie sehen Sie die Zukunft der einstigen britischen Kronkolonie?
Wir haben zwar unseren asiatischen Hauptsitz in Hongkong, aber unsere Präsenz ist im Vergleich zu globalen Banken relativ bescheiden. Wir beschäftigen dort rund 30 Mitarbeitende. Hongkong ist für uns vor allem ein Distributions- und weniger ein Produktionsstandort. Darum stellen sich uns auch nicht die gleichen existenziellen Fragen wie das für andere Finanzinstitute der Fall ist.
Wo liegen Ihre Prioritäten in diesem anspruchsvollen Jahr?
Die Kundschaft ist heute in wesentlich mehr Anlageklassen engagiert als vor fünf oder zehn Jahren. Ich denke da an Privatmarktanlagen, aber auch an höchst komplexe Aktienprodukte und festverzinsliche Anlagen, die heute vielfältiger als in der Vergangenheit sind. ESG hat sich durchgesetzt. Darauf bauen wir weiter auf. Das gilt auch für die weitere Digitalisierung – die Erfahrungen aus der Pandemie haben die Durchdringung dieser zwei Themen in der Investorenwelt stark beschleunigt, und sie werden uns weiter stark beschäftigen.
«Demographie ist ein weiterer Megatrend»
Eine grosse Priorität in diesem Jahr hat für uns die Anpassung an veränderte Märkte, an die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, an die Geldpolitik, aber auch an neue Arbeitsmodelle für unsere Beschäftigten und an die Erwartungen der Kundinnen und Kunden. Das alles führt wiederum zu Anpassungen innerhalb unserer Organisation und unserer Prozesse, damit wir agil bleiben und bereit sind, sobald sich eine Entspannung der aktuell schwierigen Lage ergibt.
Welche Investment-Trends zeichnen sich ab, wenn Sie in die Kristallkugel schauen?
Einiges habe ich bereits erwähnt. Sicherlich ein grosses Thema ist das Bedürfnis nach mehr Sicherheit der Menschen in allen Lebensbereichen, sowohl im Alltag bis hin zur Cyber-Sicherheit der Unternehmen. Demographie ist ein weiterer Megatrend, der einen riesigen Einfluss auf praktisch alle Lebensgewohnheiten haben wird. Alle diese Entwicklungen stehen in einem grösseren Kontext der Gleichberechtigung, Inklusion und nachhaltigen Zielen, die auf den bekannten Vorgaben der Uno und anderen Institutionen beruhen.
Joseph Pinto stiess 2019 als Chief Operating Officer (COO) zu Natixis Investment Managers. Im Jahr 2021 wurde er zum Head of Distribution für Europa, Lateinamerika, den Nahen Osten und den Asien-Pazifik-Raum ernannt. Seine Berufskarriere startete er 1992 beim Crédit Lyonnais im Verbriefungsgeschäft in New York, bevor er zur US-Investmentbank Lehman Brothers in den Bereich Corporate Finance in London wechselte. Von 1998 bis 2001 war er als Projektmanager bei der Strategieberatungsfirma McKinsey & Cie in Paris tätig.
Bei der Banque Privée Fideuram Wargny war er von 2001 bis 2006 stellvertretender CEO und Verwaltungsratsmitglied. Anfang 2007 wechselte er zu Axa Investment Managers, wo er Head of Business Development für Frankreich, Südeuropa und den Nahen Osten wurde. Darüber hinaus ist er stellvertretender Vorsitzender und Mitglied des Verwaltungsrats der European Fund and Asset Management Association (EFAMA).