Blue Orchard erhält als Mikrofinanz-Spezialist keine Sicherheiten für seine Kredite – dennoch ist die Ausfallrate minim. Verwaltungsratspräsident Peter Fanconi sagt im Interview mit finews.ch: Die persönliche Betreuung der Millionen von Kreditnehmern macht den Erfolg aus.


finews.ch reiste auf Einladung des Mikrofinanz-Spezialisten drei Tage lang im Bus durch Georgien, von der Hauptstadt Tbilissi bis nach Batumi, dem Badeort am Schwarzen Meer, mit Besuchen bei Kreditnehmern und Partnerinstituten. Georgien ist einer der wichtigsten Märkte für das Schweizer Mikrofinanzunternehmen, das Gelder von privaten und institutionellen Investoren in Mikro-Kredittranchen an Bauern und Kleinunternehmer in Grenz- und Schwellenländern wie Georgien, Peru, Kambodscha, Myanmar oder Tansania vergibt. Die Investoren erhalten einen Anteil des Zinses. Mikrofinanz ist die ursprünglichste Form des Impact Investing, das heute als Überbegriff für Anlagen gilt, die einen ökologisch oder sozial nachhaltigen Effekt bewirken sollen. Blue Orchard ist ein Pionier auf diesem Gebiet. 


Peter Fanconi, BlueOrchard ist einer der grossen Mikrokreditgeber in Georgien. Das Land hinterlässt aber nicht den Eindruck von bitterer Armut. Warum ist es ein Mikrofinanzmarkt?

Der Eindruck täuscht. Weil das Land sehr fruchtbar ist und viele Menschen direkt von der Landwirtschaft leben, glaubt man, dass es ihnen auch wirtschaftlich gut geht. Doch lebt rund ein Viertel der georgischen Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Richtig ist, dass das Land als Mikrofinanzmarkt relativ reif ist.

Was meinen Sie damit?

Georgiens Bevölkerung kennt Mikrokredite seit bald 20 Jahren. BlueOrchard betreut viele Kunden, die bereits mehrmals einen Kredit in Anspruch genommen haben. Die Höhe eines Mikrokredits kann sich in Georgien auch mal im Bereich von 5‘000 bis 6'000 Dollar bewegen, während es in anderen Ländern wie Myanmar, Indien oder Kambodscha bloss 50 bis 100 Dollar sein können. Auch was das regulatorische Umfeld betrifft, ist Georgien schon weit fortgeschritten. Der Kreditmarkt wird von der georgischen Nationalbank relativ eng beaufsichtigt.

Der Besuch bei der georgischen Nationalbank in Tbilissi ist aufschlussreich. Vice Governor Papuna Lezhava erklärt, dass rund 1,5 Milliarden Dollar Mikrokredite sind in Georgien vergeben werden. Davon stammen 500 Millionen Dollar von Blue Orchard. Sie machen 3,5 Prozent des lokalen Finanzsektors aus, der von den zwei in London gelisteten Instituten, der Bank of Georgia Group und der TBC Bank, dominiert wird. Neben Blue Orchard sind auch die zwei anderen Schweizer Mikrofinanzanbieter Responsability und Symbiotics in Georgien vertreten. Der Sektor wächst zweistellig, ist hochprofitabel – und hart umkämpft. 

5'000 Dollar – ist das noch ein Mikrokredit?

Durchaus, auch wenn es sich bereits um kleine Unternehmen handelt. Fakt ist, dass unsere georgischen Kreditnehmer nach wie vor keinen Zugang zum Finanzsystem haben, weil sie zu wenig Sicherheiten bieten können. Mikrofinanz schliesst in Georgien diese Lücke, mit dem Ziel, dass die Kreditnehmer in Zukunft sich an das Finanzsystem anschliessen können. Dann ist der Zeitpunkt erreicht, dass sich Mikrofinanz aus solchen Märkten zurückziehen kann, wie dies beispielsweise in einigen lateinamerikanischen Ländern bereits der Fall ist.

Doch Georgien ist noch nicht soweit?

Ich schätze den hiesigen Saturierungsgrad auf rund zwei Drittel.

In georgischen Städten fällt die hohe Dichte von Kreditinstituten auf. Es gibt ein etabliertes und reguliertes Bankensystem, der Wettbewerb unter den Instituten ist hart. Und doch erhalten viele Menschen keine Kredite?

Der springende Punkt ist, dass lokale Banken in Georgien, wie in der Schweiz ja auch, Sicherheiten einfordern. Diese sind somit der Ausgangspunkt für den wirtschaftlichen Fortschritt für Familien und Individuen. Mikrofinanzinstitute – oder auch lokale Kreditunternehmen, welche diese Dienstleistung anbieten – verlangen diese Art von Sicherheiten nicht.

In der georgischen Mikrofinanz-Szene wird gerne folgender Witz erzählt: Ein Bauer möchte das Hochzeitsfest für seine Tochter ausrichten. Er geht zu seinem lokalen Berater und beantragt einen Mikrokredit. Der Berater sagt ihm: «Das geht nicht. Du brauchst das Geld ja nur für das Hochzeitsfest.». Daraufhin geht der Bauer zu einem anderen lokalen Berater und beantragt einen Kredit für den Kauf einer Kuh. Er erhält das Geld, kauft die Kuh, schlachtet sie anschliessend und richtet mit dem Fleisch das Festessen aus.

BlueOrchard geht in Georgien ja nicht mit dem Geldkoffer zu einem Bauernhof oder einer Schreinerei. Ihr arbeitet sehr eng mit lokalen Instituten zusammen, welche die Kreditanfragen prüfen und das Geld sprechen. Wie gehen Sie mit diesem Risiko um?

Der gesamte Kreislauf von Kreditvergabe bis zur Rückzahlung ist tatsächlich komplex. Dies rührt insbesondere daher, dass im Mikrofinanzgeschäft der persönliche Kontakt zum Kreditnehmer zentral ist. Wenn beispielsweise jemand Geld braucht, um eine Maschine zum Trocknen von Früchten zu bauen, müssen wir sein Geschäft genau verstehen. Denn wir haben ja keine Sicherheiten. Kommt dazu, dass viele dieser Kleinstunternehmer nicht über die besten Buchhaltungsfähigkeiten verfügen. Wir müssen also den Kontakt zu Tausenden von Kreditnehmern pflegen. Dafür arbeiten wir mit Dienstleistern zusammen, die gemäss unseren Vorgaben und Richtlinien arbeiten, die wir betreuen und bezahlen, von denen wir ein Reporting erhalten, das wir wiederum kontrollieren. Das bringt eine hohe Komplexität mit sich, schliesslich erreichen wir weltweit mit unseren Mikrokrediten rund 200 Millionen Menschen.

Aus Sicht von Blue Orchard-Investoren ist es wichtig, dass ihr Geld auch tatsächlich für Mikokredite verwendet wird – und nicht für Konsumkredite, die hier in Georgien boomen. Wie wird das sichergestellt?

Indem wir nicht mit Konsumkreditgebern zusammenarbeiten. Es ist aber richtig, dass es mitunter schwierig ist festzustellen, ob der Kreditnehmer das Geld nicht auch einfach verkonsumiert. Wenn nun ein Bauer das Geld hälftig für den Kauf eines Traktors und für ein Auto verwendet, muss das nicht unbedingt schlecht sein. Auch Konsumartikel können zum wirtschaftlichen Fortkommen beitragen.

Was aber, wenn ein Teil des Mikrokredits für einen Fernseher ausgegeben wird?

Dann hätten wir unsere Arbeit nicht gemacht. Wir kontrollieren darum sehr wohl, wie das Geld eingesetzt wird. Die reinen Konsumkreditanbieter arbeiten auch mit viel höheren Zinsmargen als Mikrofinanzinstitute, was leider oftmals zu einer noch höheren Verschuldung führt. Das ist das Gegenteil von dem, was wir erreichen möchten.

Wie viele Kreditausfälle registrieren Sie?

Im BlueOrchard Micro Finance Fund, mit 2 Milliarden Dollar weltweit der grösste seiner Art, haben die mit uns zusammenarbeitenden Mikrokreditinstitute eine Ausfallrate von 1 Prozent. Damit liegen wir tiefer als ein durchschnittliches Kreditinstitut in der Schweiz.

Blue Orchard arbeitet hauptsächlich zwei lokalen Instituten zusammen, der Credo Bank und Crystal, einer Mikrofinanzorganisation. Sie verwalten Kreditportfolios von 250 Millionen und 100 Millionen Dollar, haben zusammen mehrere Tausend Mitarbeiter und zig Filialen im ganzen Land. Der typische Kunde hat drei oder vier Einkommensquellen, oftmals aus der Landwirtschaft. Manche zeigen Unternehmergeist: Beim Besuch eines Nähateliers in Kutaissi erklärt der Inhaber sein Geschäftsmodell: Der Kunde verlangt beispielsweise ein Kinderkostüm für ein Schulfest und kann dafür rund 20 Lari (1 Lari entspricht ungefähr 30 Rappen) bezahlen. Dafür erhält er das Kostüm für das Fest, gibt es jedoch anschliessend in den Laden zur Weitervermietung. Der Inhaber rüstet so ganze Schulen aus, deren Feste er nebenbei auch noch fotografiert. Seinen letzten Mikrokredit hat er für den Aufbau des Ateliers und Ladens verwendet.

Wie schaffen Sie das – ohne Sicherheiten und Collateral?

Es ist ein faszinierender und gleichzeitig typischer Aspekt der Mikrofinanzbranche, dass die Rückführungsquote auch ohne Sicherheit sehr hoch ist. Neben einer sehr soliden Due Diligence ist ein weiterer Grund , dass Mikrokreditgeber nicht gleich zum Geldeintreiber werden. Das heisst, wir suchen bei Schwierigkeiten den persönlichen Kontakt, prüfen die Buchhaltung, helfen mit Stundungen, beispielsweise bei Wettereinflüssen, oder gewähren auch Aufschub. Wir setzen alles daran, dem Kreditnehmer die Rückzahlung zu ermöglichen. Das ist ein enorm wichtiger Aspekt in Mikrofinanz: Der Kunde muss für die Zukunft kreditfähig bleiben.

Lesen Sie morgen Dienstag den zweiten Teil des Interviews mit Peter Fanconi.


Peter Fanconi ist Verwaltungsratspräsident von Blue Orchard, wo er zuvor auch CEO war. Der 52-jährige Jurist präsidiert zudem den Bankrat der Graubündner Kantonalbank und amtet als Vizepräsident des Verwaltungsrats der Deutschen Bank (Schweiz). Zuvor war er CEO des Hedgefonds Harcourt und CEO der Vontobel Private Bank gewesen. Blue Orchard etstand 2001 auf Initiative der Vereinten Nationen (Uno) und hat heute rund 6 Milliarden Dollar in Mikrokredite in rund 80 Ländern investiert.