China wird mit der grössten Landflucht aller Zeiten konfrontiert sein. Das bietet Chancen für Anleger, sagt Alfred Strebel von Fidelity International.
Von Alfred Strebel, Managing Director Fidelity International Schweiz und Österreich
In 20 Jahren werden voraussichtlich mehr als 60 Prozent der Weltbevölkerung in Städten leben. In Europa und Nordamerika war die stärkste Urbanisierung in den sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu verzeichnen.
Heute entfällt sehr viel Wachstum in den Schwellenländern auf Städte, die ökonomisch motivierte Migranten anziehen. Gemäss einer Uno-Prognose wird die Stadtbevölkerung in Asien bis 2050 um 1,8 Milliarden Menschen wachsen.
Hinzu kommen fast eine Milliarde Afrikaner, die sich für ein Leben in der Stadt entscheiden werden, und 200 Millionen Menschen in Lateinamerika und der Karibik, die ihre ländliche Heimat verlassen.
Anteil der Gesamtbevölkerung mit Domizil in städtischen Gebieten
(Quelle: Vereinte Nationen, 2008)
Oft sind es zwar gut ausgebildete junge Erwachsene, die dem Landleben den Rücken kehren, doch die Herausbildung einer exportorientierten Fertigungsindustrie in den ärmsten Ländern Asiens hat auch zu einer erheblichen Nachfrage nach Arbeitskräften mit geringem oder mittlerem Ausbildungsniveau geführt.
Unabhängig vom Bildungsniveau der Migranten liegt die Attraktivität der Städte in den finanziellen Anreizen begründet, die das Stadtleben bietet.
Beschleunigte Urbanisierung
Ein Beispiel dafür liefert China: Dort ist das Einkommensniveau in den Städten bereits dreimal so hoch wie auf dem Land, und einige Studien prognostizieren, dass das verfügbare Einkommen und die Konsumnachfrage in den Städten Chinas im Jahr 2025 doppelt so hoch sein werden wie in Deutschland.
Infolge dieser stark beschleunigten Urbanisierung werden in der Zukunft voraussichtlich mehr als 90 Prozent des chinesischen Bruttoinlandprodukts (BIP) in den Städten erwirtschaftet werden.
Bedarf an neuer Infrastruktur
Infolge der wachsenden Bevölkerungszahl kommt die städtische Infrastruktur in den Schwellenländern jedoch zunehmend unter Druck. Länder wie China müssen ihre Stromnetze, Wasserleitungen und Verkehrsverbindungen ausbauen, um dem Wachstum der Stadtbevölkerung gerecht zu werden.
Gleichzeitig sind auch in den Industriestaaten weitere Investitionen notwendig. Die alternde Infrastruktur dieser Länder, die oft seit Jahrzehnten oder gar seit über hundert Jahren existiert, muss modernisiert werden.
Gigantische Investitionen
Gemäss den Vorschlägen einer OECD-Studie aus dem Jahr 2007 sollten 3,5 Prozent des globalen BIP jedes Jahr in das Stromnetz, die Strassen und Schienenwege, die Telekommunikationsanlagen und die Wasserversorgung investiert werden.
Asien könnte insgesamt rund 400 Milliarden Dollar jährlich investieren. Europa dürfte pro Jahr rund 200 Milliarden Dollar für diese Zwecke ausgeben, und die USA selber kommen wahrscheinlich auf einen Betrag von 180 Milliarden Dollar.
Infrastruktur hielt bisher nicht Schritt
China und Indien gehören zu denjenigen Schwellenländern, die umfangreiche Konjunkturprogramme angekündigt haben, bei denen Infrastruktur-Investitionen im Mittelpunkt stehen.
Indien mag eine der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt sein. Doch ihre Infrastruktur konnte mit diesem Wachstumstempo nicht Schritt halten. Die indische Regierung ist aber entschlossen, die Investitionen in Infrastruktur zu verstärken, wobei verschiedene Studien eine Summe von 500 Milliarden Dollar für notwendig halten, um das Land auf das heute übliche Niveau zu bringen.
Rund 60 Prozent dieses Betrags dürften in die Bereiche Energie und Transportwesen fliessen. Angesichts erheblicher Engpässe bei der Stromversorgung und eines niedrigen Pro-Kopf-Stromverbrauchs hat sich die Regierung zum Ziel gesetzt, die Stromerzeugungskapazität bis 2012 um 80‘000 Megawatt zu erhöhen.
Grösste Landflucht aller Zeiten
China wird in den kommenden Jahrzehnten mit der grössten Landflucht aller Zeiten konfrontiert sein, da bis zu 70 Prozent seiner Bevölkerung aus Dörfern in städtische Gebiete abwandern werden.
Für die chinesischen Städte bedeutet dies einen Zuwachs von 350 Millionen Menschen, durch welche die städtische Bevölkerung des Landes auf über eine Milliarde anschwellen wird. Dies könnte den grössten Bauboom im Nahverkehr auslösen, der je beobachtet wurde.
Zudem muss ausserhalb der Ballungszentren ein umfangreiches Schienennetz geschaffen werden, das die Städte mit den ländlichen Gegenden verbindet. Bis zum Jahr 2012 dürfte China jährlich neue Bahngleise von 10'000 Kilometer verlegen. Zum Vergleich: Das deutsche Schienennetz ist das grösste in Europa und hat eine Gesamtlänge von 34'000 Kilometer.
Neuer Schwung für die Industrieländer
Während die Schwellenländer ihre Kerninfrastruktur von Grund auf neu errichten müssen, stehen die Industrieländer vor der Aufgabe, ihre zu einem Grossteil veraltete Infrastruktur zu erneuern.
Um in einer Welt, die zunehmend durch die Wirtschaftsmacht der Schwellenländer beeinflusst wird, konkurrenzfähig zu bleiben, müssen die Industrieländer massiv in ihre Infrastruktur investieren. Wenn der Westen bei der Modernisierung seiner grundlegenden Infrastruktur keine deutlichen Fortschritte erzielt, könnte sich dies als kostspielig erweisen:
Mögliche Folgen sind Verkehrsstaus, eine mangelnde Zuverlässigkeit der Versorgungsleitungen und zunehmende Umweltprobleme, ganz zu schweigen von den Auswirkungen auf den Lebensstandard und die Lebensqualität.
Obamas Versprechen
Es verwundert daher kaum, dass die weltweite Rezession zu Plänen für umfangreiche staatliche Konjunkturprogramme geführt hat, die auf die Erneuerung der maroden Infrastruktur abzielen.
«Wir werden die Strassen und Brücken bauen, die Stromnetze und Digitalleitungen, die unseren Handel nähren und uns miteinander verbinden», erklärte US-Präsident Barack Obama in seiner Antrittsrede im Januar 2009. Gleichzeitig verpflichtete er sich, rund ein Drittel seines Konjunkturprogramms im Umfang von 825 Milliarden Dollar für neue Infrastrukturprojekte zu verwenden.
Opportunitäten für die Privatwirtschaft
Darin enthalten ist ein Betrag von 150 Milliarden Dollar, der in den nächsten zehn Jahren für saubere Energien aufgewendet werden soll. Über ein Jahr später steht ein Grossteil dieser Investitionen noch aus.
Die Privatwirtschaft dürfte daher gute Chancen haben, sich im Rahmen von öffentlich-privaten Finanzierungen an der Seite der Regierung an diesen Projekten zu beteiligen.
Ausgaben des US-Konjukturprogramms für Infrastrukturprojekte
(in Milliarden Dollar, Quelle: Wall Street Journal)
Die Privatwirtschaft könnte bei vielen Infrastrukturprojekten sogar eine wichtige Rolle spielen. Weltweit ist ein Grossteil der Infrastruktur bereits in privater Hand. Seit den 1980er-Jahren wurden in den OECD-Staaten Aktiva im Wert von mehr als einer Billion Dollar privatisiert.
Wahrscheinlich werden weitere Vermögenswerte in Privatbesitz übergehen, da die Schwellenländer nach neuen Wegen suchen, ihre staatlichen Infrastrukturanlagen zu finanzieren. Bereits heute leistet die Privatwirtschaft 20 bis 25 Prozent der Infrastrukturfinanzierungen in den Schwellenländern.
Wertvolles Know-how
Eine Vielzahl privater Unternehmen wird gut positioniert sein, um von der wachsenden Nachfrage nach dem Neubau oder nach Besitz und Verwaltung von Infrastrukturanlagen zu profitieren.
Die Produzenten und Auftragnehmer des Investitionsgütersektors in den Industrieländern werden die Gelegenheit nutzen und den Schwellenländern ihr Know-how zur Verfügung stellen (während sie in den Industrieländern nach wie vor eine Nachfrage nach Erneuerung der Infrastruktur vorfinden).
Eisenbahnen mit Zukunft
Die Zunahme neuer Geschäftsmöglichkeiten, die diese Unternehmen in den Schwellenländern verzeichnen, dürfte viele Jahre lang anhalten.
Der französische Eisenbahnsektor floriert derzeit, was seiner jahrzehntelangen Erfahrung bei der Entwicklung modernster Hochgeschwindigkeitszüge zu verdanken ist. Faiveley stellt Hightech-Bauteile für Züge her, darunter Kupplungen, Klimaanlagen und Türen, und verzeichnet derzeit einen Absatzanstieg in China.
Elektrizität als Schlüsselfaktor
Unterdessen bilden sich in den Schwellenmärkten auch einheimische Spitzenunternehmen heraus. Die privaten Unternehmen der Schwellenländer diversifizieren ihr Geschäft derzeit durch die Bereitstellung und teilweise auch den Besitz von Infrastrukturanlagen.
Dank ihrer guten Verbindungen vor Ort und ihres Verständnisses der örtlichen Gegebenheiten entwickeln sie sich zu wichtigen Konkurrenten respektive Partnern der Unternehmen aus den Industrieländern.
Rural Electrification Corporation ist ein staatliches indisches Unternehmen, das in ganz Indien ländliche Elektrifizierungs-Projekte fördert und finanziert. Als Kapitalgeber dürfte das Unternehmen ein ähnliches Wachstum seiner Aktiva wie der Stromsektor verzeichnen.
Wirtschaft und Urbanisierung eng verflochten
Die wirtschaftlichen Ziele eines Landes sind mit dem Weg zur Urbanisierung oft eng verflochten. Die grossen Zentren der Zivilisation, des Handels und der Verwaltung sind von jeher urban – von den antiken Grossstädten Rom und Konstantinopel bis zu den heutigen Zentren London, New York und Tokio.
Die Chancen, die Städte bieten, bestätigen ihre wichtige Rolle beim Erzielen von Nachfragewachstum und in Bereichen wie Industrieaktivität, Immobilienentwicklung und Einzelhandel, unterstreichen aber auch ihren Bedarf nach einer robusteren Infrastruktur und einer einzigartigen Finanzierung.
Branchen mit Potenzial
Der Nutzen der Urbanisierung hängt jedoch entscheidend davon ab, ob die notwendige Infrastruktur vorhanden ist, um für die Ausbildung, die Unterbringung und den Transport der Menschenmassen zu sorgen.
Die Regierungen fordern die Privatwirtschaft dazu auf, an der Deckung dieser Nachfrage mitzuwirken. Dabei sind bestimmte Branchen besonders gut positioniert, um von dieser Entwicklung zu profitieren: Bauwesen, Grundstoffe, Investitionsgüter, Transport – und selbstverständlich das Finanzwesen.
Vielfalt wird noch zunehmen
Die Vielfalt der Chancen, die sich aus dieser Entwicklung ergeben, wird im Lauf der Zeit jedoch stark wachsen. Eine Investition in das urbane Zeitalter ist eine Investition in die Zukunft, die die Mehrheit der Weltbevölkerung erwartet, und eine Investition in das künftige Wachstum der Weltwirtschaft. Das ist eine einmalige Gelegenheit.