UBS-Debatte: Worauf es wirklich ankommt
Die Schweiz streitet über höhere Eigenkapitalanforderungen für die UBS. Dabei geht die eigentliche Lehre aus den Bankenkrisen 2023 vergessen.
Von Adriano Lucatelli
Nach dem dramatischen Kollaps der Credit Suisse (CS) und ihrer Notfusion mit UBS diskutieren Schweizer Regulatoren und Parlamentarier derzeit, ob die seither erst recht gigantische UBS strengere Kapitalvorgaben erhalten soll. Das Anliegen ist nachvollziehbar – schliesslich hat die UBS inzwischen nicht nur für die Schweiz, sondern auch für Europa und die Weltwirtschaft systemische Bedeutung.
Doch so entscheidend Kapitalpuffer für die langfristige Solvenz sind, so wenig Schutz bieten sie in einer akuten Liquiditätskrise. Die Fälle CS und die Silicon Valley Bank (SVB) im Jahr 2023 zeigen: Wenn es ums Überleben geht, dann entscheidet in der modernen Bankenwelt die Liquidität – nicht das Kapital.
Das Paradox von SVB: viel Kapital, keine Liquidität
Auf dem Papier war die SVB solide aufgestellt. Kurz vor ihrem Zusammenbruch meldete sie eine CET1-Quote von rund 15 Prozent – deutlich über dem regulatorischen Minimum. Für Aufseher und Investoren signalisierte das eine widerstandsfähige Bank. Doch wie bei der CS zeigte diese plakative Kenngrösse nur einen Teil der Wahrheit.
Die Kapitalausstattung der SVB widerspiegelte weder die starke Konzentration der Einlagen noch die ungesicherte Zinsrisikoposition noch die Illiquidität ihrer langfristigen Wertpapiere. Diese strukturellen Schwächen tauchten in den regulatorischen Kapitalkennzahlen nicht auf – obwohl sie für die nachfolgende Krise entscheidend waren.
Kapitalquoten garantieren keine Widerstandskraft
Als das Vertrauen der Einleger schwand, flossen innerhalb eines einzigen Tages über 42 Milliarden Dollar von der Bank ab. Die SVB konnte nicht schnell genug Liquidität beschaffen, um diese Abflüsse zu decken – nicht, weil ihr Kapital erschöpft war, sondern weil sie ihre Aktiven nur mit erheblichen Verlusten hätte verkaufen können.
Die Lehre ist klar: Das Erfüllen regulatorischer Kapitalquoten garantiert bei akuten Krisen keine Widerstandsfähigkeit. Im Zeitalter des Echtzeit-Bankings und der Ansteckung über digitale Kanäle ist es zuvorderst die Liquidität, die den Schock einer Vertrauenskrise abfedern kann.
Kapital neu denken – im Lichte regulatorischer Flexibilität
Zum Zeitpunkt ihres Zusammenbruchs meldete die CS eine CET1-Quote von über 14 Prozent – ebenfalls über dem regulatorischen Minimum. Für viele Beobachter schien sie damit gut kapitalisiert zu sein. Doch diese Zahl kaschierte eine zerbrechliche Realität.
Bei der Bemessung des Eigenkapitals der CS setzte die Finanzmarktaufsicht Finma bestimmte regulatorische Filter ein, die es ermöglichten, aufgeschobene Steueransprüche, immaterielle Vermögenswerte und Übergangspositionen auf das regulatorische Kapital anzurechnen. Solche Praktiken sind regelkonform – können die ausgewiesene CET1-Quote aber erheblich aufblasen und so ein falsches Sicherheitsgefühl erzeugen.
Der Zweifel am Aussagewert von Kapitalquoten
In der Praxis lag die «effektive» Kapitalposition der CS deutlich unter dem kommunizierten Wert. Als die Liquidität versiegte und das Vertrauen verschwand, war die auf dem Papier bestehende Kapitalstärke unzureichend.
Der Fall offenbart ein zentrales Problem bei der Messung der adäquaten Kapitals: Wenn die Kapitalqualität durch regulatorische Interpretationen verwässert wird, verliert die Quote ohnehin an Aussagekraft. Umso mehr gilt: Nicht das gefilterte Kapital, sondern die Liquidität ist der bessere Garant für Widerstandsfähigkeit.
Wenn das Vertrauen bricht, zählt das Kapital wenig
In beiden Fällen begann der Niedergang nicht mit dem Zusammenbruch des Kapitals, sondern mit dem Verlust des Vertrauens.
Bei der CS kumulierten sich jahrelange Reputationsschäden im ersten Quartal 2023 zu einem Abfluss von über 110 Milliarden Franken an Vermögen und Einlagen. Innert Tagen benötigte die Bank Notliquidität von der Schweizerischen Nationalbank. Wenig später existierte sie nicht mehr als unabhängiges Institut.
Keine der beiden Banken war «unterkapitalisiert»
Bei der SVB in Kalifornien führte ein digitaler Bank Run zum Abfluss von 42 Milliarden Dollar innerhalb von 24 Stunden. Die Aufsichtsbehörden schlossen sie tags darauf. Keine der beiden Banken war «unterkapitalisiert» – doch beide scheiterten an einem plötzlich akuten Vertrauensverlust.
Klassische Kreditratings hinkten hinterher. Ein anderer Indikator dagegen reagierte in beiden Fällen rasch: die Credit Default Swaps (CDS). Sie zeigten bereits vor den offiziellen Herabstufungen die steigenden Liquiditäts- und Vertrauensrisiken.
Marktimpliziertes Risiko weiss es zuerst
Die CDS-Spreads von CS und SVB weiteten sich deutlich aus, noch bevor die Märkte das volle Ausmass der Probleme erfassten. Diese Marktsignale sind zwar volatil, reagieren aber wesentlich sensibler und in Echtzeit auf fragile Realitäten bei der finanziellen Position einer Bank.
In einer Welt, in der sich die Stimmung in Stunden drehen und Liquidität in Minuten verdampfen kann, ist Kapital ein nachlaufender Indikator. CDS-Spreads sind ein Frühwarnsystem.
Warum sich Liquiditätsrisiken schwer regulieren lassen
Anders als Kapital – das greifbar, von Wirtschaftsprüfern zertifiziert und Stresstests unterzogen wird – ist Liquidität flüchtig und basiert auf Vertrauen. Eine Bank kann liquide erscheinen, doch wenn Gegenparteien und Einleger nicht mehr an ihre Stabilität glauben, wird sie über Nacht illiquide.
Digitales Banking verschärft diese Anfälligkeit. In Zeiten des Smartphones steht niemand mehr am Schalter – man hebt mit einem Klick ab. Die Geschwindigkeit der Abflüsse hat die Geschwindigkeit der klassischen Risikoaufsicht längst überholt.
Deshalb reicht es nicht mehr, allein auf Kapitalquoten zu schauen.
UBS: Was es wirklich braucht
Die UBS ist heute ein starkes Institut, mit solider Kapitalausstattung und guter Governance. Doch durch ihre neue Grösse nach der Fusion hätte ein möglicher Vertrauensschock enorme Folgen für das Finanzsystem. Forderungen nach höheren Kapitalvorgaben mögen politisch plausibel sein – doch sie verfehlen das Kernproblem: die Vorbereitung auf Liquiditätsrisiken.
Im Zentrum der Debatte sollten stattdessen die Fragen stehen:
- Wie schnell kann die UBS im Notfall auf Zentralbankliquidität zugreifen?
- Wie robust ist ihr Refinanzierungsmodell unter Stress? Wie werden digitale Abflüsse modelliert und überwacht?
- Wie ist der Liquiditätspuffer strukturiert – und wie viel davon ist tatsächlich innerhalb von 24 Stunden verfügbar?
- Was signalisiert der CDS-Markt aktuell?
Ein besserer Rahmen für die nächste Krise
Kapitalregulierung bleibt wichtig. Doch sie ist nach den jüngsten Erfahrungen kein besonders belastbares Mass für die Widerstandskraft oder Resilienz.
Sowohl die CS als auch die SVB «bestanden» den Kapitaltest – bis sie am Liquiditätstest scheiterten. Und wenn Kapital sich frisieren, filtern oder missverstehen lässt, muss seine Rolle neu definiert werden.
Es ist Zeit, die Liquidität ins Zentrum der Beurteilung, Regulierung und Steuerung von Finanzstabilität zu stellen – gerade im Zeitalter digitaler Geschwindigkeit und geopolitischer Unsicherheit.
Die UBS wird diese Krise vielleicht nie erleben. Sofern es aber doch einmal dazu kommen sollte, wird nicht das Kapital entscheidend sein, sondern die Liquidität.
Adriano B. Lucatelli ist Schweizer Unternehmer und Mitgründer von Descartes Finance, einem unabhängigen Fintech. Er studierte Wirtschaftswissenschaften und Internationale Beziehungen an der Universität Nevada (BA) sowie an der London School of Economics (MSc). Er promovierte an der Universität Zürich über die Thematik der globalen Finanzmarktaufsicht.