Das  Finanzdienstleistungsabkommen zwischen der Schweiz und dem Vereinigten Königreich wird als Meilenstein in der Post-Brexit-Landschaft angesehen. Chris Hayward, der Policy Chairman der City of London Corporation, sieht das Abkommen über die gegenseitige Anerkennung als einen Anfang, nicht als einen Endpunkt der Beziehungen. Es sollte als ein Modell für Verträge mit anderen Ländern Beachtung finden, sagte er gegenüber finews.ch.

Herr Hayward, die Unterzeichnung des Finanzdienstleistungsabkommens zwischen der Schweiz und Grossbritannien im vergangenen Dezember wurde als Durchbruch gefeiert. Wo stehen wir jetzt?

Dieser Vertrag ist einzigartig zwischen zwei souveränen Nationen. Und es ist insbesondere deswegen wichtig, da die Schweiz und Grossbritannien die beiden grössten Finanzplätze in Europa sind und beide nicht Mitglieder der EU. Das MRA (mutual recognition agreement) wurde erst genau dadurch möglich. Zudem treten beide Länder für offene und liberale Märkte ein und sind besorgt über einige der protektionistischen Tendenzen im Rest der Welt. Ausserdem haben beide Länder ein hohes Niveau bei den Regulierungsstandards. Das ist ein wirklich wichtiger Punkt. Beide Seiten erhalten Zugang zum Markt für Finanzdienstleistungen. Für die Schweizer Institutionen werden dabei zunächst die anlageorientierten Dienstleistungen im Vordergrund stehen, und für Grossbritannien ergeben sich Spielräume, um etwa in den Schweizer Versicherungsmarkt einzutreten.

Ist das Abkommen ausgewogen oder hat eine der Parteien einen grösseren Vorteil?

Jede Vereinbarung dieser Art beruht zwangsläufig bis zu einem gewissen Grad auf einem Kompromiss. Es muss also für beide Seiten der Gleichung genügend Vorzüge geben, damit es funktioniert. In der Schweiz muss das Abkommen noch dem Parlament vorgelegt werden, und so wie wir es verstehen, sollte der Ratifizierungsprozess bis Ende dieses Jahres oder Anfang nächsten Jahres dauern. Bei uns ist das Verfahren kürzer, und das Gesetz über Finanzdienstleistungen und -märkte tritt nach einer Frist von 21 Tagen in Kraft, nachdem es dem Parlament zur Stellungnahme vorgelegt wurde.

Erwarten Sie eine weitere Vertiefung der Zusammenarbeit?

Wir hoffen, dass dies der Anfang und nicht das Ende dieser Zusammenarbeit ist und dass es Möglichkeiten gibt, sie zu erweitern. Dies ist ein Modell, auf das nicht nur die EU, sondern auch der Rest der Welt schauen und die möglichen Vorteile erkennen sollte.

Die Schweiz hat wieder die Verhandlungen mit der EU über ihre Beziehungen aufgenommen. Wird das Auswirkungen haben?

Ich glaube nicht, dass die EU das als eine Art Bedrohung ansehen sollte. Es ist einfach eine Gelegenheit, die wir ergriffen haben, um für unseren beiden Länder eine vorteilhafte Regelung zu finden. Das sollte auch die Gespräche mit der EU nicht untergraben. Grossbritannien hat einen langen und schmerzhaften Prozess durchlaufen, um Europa zu verlassen. Aber ich denke, wir haben das jetzt hinter uns. Auch wir haben Gespräche mit der EU über Finanzdienstleistungen aufgenommen und ich glaube nicht, dass Verhandlungen die Position eines der beiden Länder gegenüber der EU schwächen.

«Müssen nicht in der Union sein, um mit ihr Handel zu treiben»

Sie sehen also den Prozess des Austritts aus der EU als abgeschlossen an?

Es ist klar, dass es nach einer Scheidung eine lange Phase der Versöhnung braucht, und das war wie eine Scheidung. Wir müssen das Vertrauen erst wieder aufbauen. Der Handel mit einem starken, unabhängigen Vereinigten Königreich ist aber für beide Seiten gut. Es gibt also viele Vorteile. Wir müssen nicht in der Union sein, um mit der EU Handel zu treiben und auch dabei die Vorzüge zu maximieren.

Wie hat sich das Passporting-Problem auf die Londoner City ausgewirkt?

London hat sich als Finanzplatz als bemerkenswert widerstandsfähig gegenüber dem Brexit erwiesen. Ich persönlich war ein «Remainer» und wollte in Europa bleiben. Ursprünglich dachten wir, dass wir aufgrund der Passporting-Problematik Hunderttausende von Arbeitsplätzen verlieren würden. Am Ende haben wir zwar Arbeitsplätze verloren, das waren aber deutlich weniger als prognostiziert. Und es gibt auch neue Jobs. Es gab auch einige Unternehmen aus der EU, die gerade wegen des Brexit die Notwendigkeit sahen in London präsent zu sein. Das hat für einen Ausgleich gesorgt.

Aber es gab schon eine Verlagerung?

Wir haben einige Arbeitsplätze durch Passporting verloren, zum Beispiel nach Dublin oder Paris. Interessanterweise gibt es nur wenige Hinweise darauf, dass viele Stellen nach Frankfurt gegangen sind. Aber insgesamt war nicht so schädlich, wie wir befürchtet hatten.

Der Warenverkehr und der Stellung der Industrie spielt in der britischen Politik eine grosse Rolle. Wird der Sektor der Dienstleistungen etwas stiefmütterlich behandelt?

Ich möchte die britische Regierung dazu ermutigen, ihre Handelspolitik stärker auf den Dienstleistungssektor auszurichten. 85 Prozent unserer Arbeitsplätze kommen aus dem Dienstleistungssektor, und dennoch erkennt unsere Handelspolitik nicht an, dass sie immer noch auf das verarbeitende Gewerbe ausgerichtet ist. Ich sage nicht, dass wir keine Handelspolitik für die Industrie brauchen. Natürlich brauchen wir das. Aber wir müssen das besser ausbalancieren. Ein Abspaltung wie die von der EU hat naturgemäss tiefgreifenden Auswirkungen. Aber wir haben den Sturm ziemlich gut überstanden.

Irgendwann in diesem Jahr wird es in Grossbritannien Parlamentswahlen geben. Was würden Sie von einem Regierungswechsel zur Labour Party erwarten?

Das ist durchaus im Bereich des Möglichen, wenn man den Umfragen Glauben schenken darf. Die City of London Corporation ist eine unparteiische Organisation. Wir sind wirklich unabhängig und haben ein echtes Interesse daran, für den Sektor zu sprechen und ihn zu fördern. Die Labour Party hat gerade ihren Bericht zum Finanzsektor vorgelegt. Wir haben dazu unseren Input geliefert, wie wir es bei jeder politischen Partei tun würden. Ich habe den Eindruck, dass Labour die Finanzindustrie eher als Teil der Lösung, denn als Teil des Problems sieht.

«Labour-Regierung wird wirtschaftsfreundlich sein»

Aber wer auch immer nach der Wahl an die Macht kommt, wird sich in erster Linie mit den Haushaltsproblemen befassen müssen. Die zentrale Herausforderung ist, wie man Wirtschaftswachstum erreichen kann. Und wir haben ein sehr innovatives Paket von Vorschlägen zum Wirtschaftswachstum vorgelegt. Was das Land braucht, um Wachstum zu erzielen, ist eine starke Partnerschaft zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor. Wenn sie tun, was sie versprechen, wird eine Labour-Regierung wirtschaftsfreundlich sein. Ich habe Gespräche mit dem Team des Schatten-Finanzministers der Labour-Partei geführt. Sie sind der City gegenüber sehr wohlgesonnen. Ich glaube, sie erkennen das als den richtigen Weg. Ohne Wachstum gibt es keine neuen Arbeitsplätze, keine neuen Unternehmen und keine neuen Steuereinnahmen zur Finanzierung der öffentlichen Dienste.

Die Square Mile hat sich in den letzten Jahren stark verändert und viele Firmen ziehen wieder in die City, auch aus Canary Wharf. Was sind die Gründe?

Als die Banken vor 15 oder 20 Jahren nach Canary Wharf zogen, lag das vor allem daran, dass unsere Planungspolitik keine hohen Gebäude zuliess. Sie konnten keine Büros in der Grösse bekommen, die sie brauchten. Das hat sich geändert, und es gibt aktuell elf neue Hochhäuser in der Planungsphase. Ich war massgeblich an der Rückkehr einiger dieser Unternehmen in die City beteiligt. Firmen wie HSBC oder Clifford Chance sind zurück, und wir sind mit anderen in Gesprächen. Aber nicht nur aus dem Osten, sondern auch aus dem Westen kommen Firmen. Denken Sie etwa an Mayfair, wo es viele Hedgefonds gibt. Ich bin davon überzeigt, dass die City of London vor einer Renaissance steht.

Früher war die City nach Büroschluss oder an Wochenenden ein eher trister Ort und weitgehend verwaist. Wie hat sich das geändert?

Wir haben in der City heute eine viel jüngere Erwerbsbevölkerung. Die wollen am selben Ort arbeiten und ihre Freizeit geniessen. Jetzt haben wir ein lebhaftes Nachtleben. Vor zwei Jahren haben wir eine Initiative mit dem Titel «Destination City» lanciert. Damit wollen wir die City nicht nur als Ort für die Wirtschaft definieren, sondern auch für den Tourismus attraktiv machen. Während der Covid-Pandemie haben wir viele kleine Unternehmen unterstützt, wie Cafés oder Sandwich-Bars, um sie am Leben zu erhalten. Wir haben an einer Wiederbelebung gearbeitet, an einer dynamischeren, moderneren City of London.


Chris Hayward wurde 2013 zum ersten Mal in den Common Council der City of London Corporation gewählt und war Vorsitzender des Planungs- und Verkehrsausschusses der City Corporation sowie von 2019 bis 2021 Sheriff der City of London. Im Mai 2022 wurde er zum Policy Chairman gewählt.
Seit seiner Jugend engagiert er sich in der britischen Politik auf lokaler und nationaler Ebene und hat in verschiedenen Branchen Unternehmen in Großbritannien und weltweit gegründet, geleitet und ausgebaut. Hayward ist weiterhin als Non-Executive Director in Unternehmen tätig, die sich auf Immobilien, Infrastruktur, Bauwesen und Planung konzentrieren.