Nicht Protektionismus oder die Politik sind die Gründe dafür, dass die Schweizer Finanzindustrie nur beschränkten Zugang zu den EU-Nachbarn erhält – sondern die klaffenden Lücken in der Regulierung.

Privatbankiers beschweren sich gerne und öffentlich darüber, dass alles und jeder sich ständig zwischen sie und ihre Kunden dränge. Das scheint auch dieses Jahr nicht anders zu sein. Wie finews.ch bereits berichtete, wird in der Schweiz derzeit gerne auf das Fehlen spezifischer bilateraler Abkommen mit Frankreich und Italien hingewiesen, wie sie derzeit in der erleichterten Freistellung mit Deutschland bestehen. Dort können auch kleine Schweizer Privatbanken tätigen sein, auch wenn sie keine Präsenz in dem Land haben.

Einige hochrangige Vertreter der Industrie fordern nun dasselbe für die beiden anderen ihrer Meinung nach widerspenstigen Nachbarstaaten. Sie werten den fehlenden Marktzugang entweder als Protektionismus, oder sie klagen, dass es in Bern am politischen Willen fehle, ein solches Abkommen auszuhandeln.

In der Regulierung zehn Jahre hinterher

Aber das Problem liegt tiefer. Die Gleichgültigkeit der Politik ist eher darauf zurückzuführen, dass die Schweizer Regulierung mindestens eine Generation hinter der anderer grosser Finanzzentren hinterherhinkt. Das zumindest, wenn es um den Schutz der Kunden geht.

Die Eidgenössische Finanzmarktaufsicht (Finma), die im Jahr 2009 eilig aus ihren drei Vorgängerbehörden zusammengezimmert worden war, konzentrierte sich zunächst verständlicherweise auf die Solvenz der unterstellten Banken. Die Folgen der Finanzkrise waren noch immer spürbar, und die Erinnerungen an die wiederholten Rettungsaktionen des Bundes für die UBS sehr lebendig.

Das Problem ist, dass es auch danach keine grossen Fortschritte gegeben hat, obwohl der Schutz der Verbraucher und Kunden seit fast zehn Jahren ein zentraler und fester Bestandteil von Regulierung und Compliance ist.

Über Tier 1 hinaus

Dieser Trend zu mehr Kundenschutz dürfte sich international fortsetzen, wie Deloitte in seinem Ausblick auf die Regulierung im Jahr 2022 festgestellt hat. Aspekte wie faires Verhalten, verantwortungsvolle Produktangebote, Investitionen mit angemessenem Risikoprofil und Schutz für vulnerable Kunden sind inzwischen weltweit mindestens so wichtig wie Tier-1-Quoten, wenn nicht sogar noch wichtiger.

Zu diesen Themen hat die Schweizer Aufsichtsbehörde auf ihrer Website nur wenig zu sagen. Sie gibt an, dass ihre «prinzipienbasierte» Form der Aufsicht nur verlangt, dass sie «dort reguliert, wo es notwendig ist» und dies auch nur dann, wenn dies «ausdrücklich in der Gesetzgebung vorgesehen ist».

Zwar wird in einer Imagebroschüre betont, dass sie den Auftrag hat, Gläubiger und Anleger vor unlauteren Geschäftspraktiken oder ungleicher Behandlung zu schützen. Die ausdrücklichen Verweise auf Bankkunden, institutionelles Verhalten oder Ähnliches fehlen jedoch weitgehend. Erwähnung findet nur das Einlagensicherungs-System und eher beiläufig auf die Prüfung der Eignung von Bank-Managern.

Soweit feststellbar, gibt es weder spezifische Rundschreiben noch Leitlinien in Englisch oder einer der Landessprachen der Schweiz zu diesem Thema. Anfragen von finews.ch dazu sind seitens der Finma noch ohne Antwort geblieben.

Niederlassung erforderlich

Unter diesen Voraussetzungen dürften Frankreich und Italien nur ein geringes Interesse daran haben, kleine Privatbanken ohne die Rechenschaftspflicht einer Niederlassung oder Tochtergesellschaft zuzulassen. Dies insbesondere, wenn sie Offshore-Konten und Anlagedienstleistungen anbieten.

Selbst bei so grundlegenden Dingen wie der Einlagensicherung, die alle drei Nachbarländer im Rahmen des EU-Rechts auf 100’000 Euro festgelegt haben, stellen sich zahlreiche Fragen. Wer zahlt, wenn etwas schief geht? Ist es die Gerichtsbarkeit des Empfängers oder der ursprüngliche Anbieter, das lokale Einlagensicherungssystem oder das Schweizerische? Wie funktioniert das Verfahren überhaupt, wenn die Bank nicht einmal vor Ort präsent ist?

Das Gleiche gilt für diskretionäre Mandate, die ausserhalb der jeweiligen Gerichtsbarkeit gebucht werden. Wie kann jemand sicherstellen, dass die lokal umgesetzten Mifid-II-Eignungsprüfungsregeln befolgt und durchgesetzt werden? Wie kann sichergestellt werden, dass eine Bank die Anforderungen an ein faires Verhalten beachtet? Um es kurz zu machen: Sie kann es nicht.

Familienhaftung als Hürde

Auch der Familienbesitz, der bei der Eignerschaft kleinerer Privatbanken weit verbreitet ist und als Garant von Stabilität beworben wird, wird laut einem führenden Compliance-Experten mit langjähriger Erfahrung bei schweizerischen, britischen und US-amerikanischen Instituten zunehmend als Belastung angesehen.

Das Problem dabei ist, dass die Familieneigentümer oft nicht mehr als ein Lippenbekenntnis zu den begrenzten Finma-Standards für Verhalten und Kultur ablegen. In einigen Fällen ignorieren sie diese einfach, insbesondere wenn es darum geht, wie sie mit Kunden umgehen.

«Ironischerweise halten die grösseren Banken für ihre Niederlassungen in den USA, Grossbritannien, Hongkong und Singapur weitaus höhere Standards ein als in der Schweiz selbst», so der Experte.

Folgen für das Geschäft

Und das hat Folgen. Derselbe Experte weist darauf hin, dass kleinere Privatbanken selten das gesamte Portfolios von vermögenden internationalen Kunden halten.

«Das Gütesiegel eines Schweizer Privatkontos gibt es zwar immer noch, aber die Kunden wollen ihnen nicht ihr gesamtes Vermögen anvertrauen, weil ihnen das Vertrauen fehlt. Stattdessen nutzen sie die Preisgestaltung, um sie gegeneinander auszuspielen. Die Banken wissen, dass sie im besten Interesse der Kunden handeln müssen. Aber das läuft ihrem Wesen zuwider», so der Experte.

Wie finews.com bereits berichtete, plant die EU darüber hinaus die Einführung einer neuen Gesetzgebung, die das Private-Banking-Geschäft direkt ins Visier nimmt und es mit einem höheren Risikofaktor eingestuft. Bis die Gesetzgebung in Kraft tritt, werden sowohl Frankreich als auch Italien wahrscheinlich nichts unternehmen.

Keine direkter Ausschluss

Ein Compliance-Experte des britischen Beratungsunternehmens Storm-7 hält es dennoch für unwahrscheinlich, dass die EU die Schweiz jemals direkt ausschliessen wird, da dies ein expliziter politischer Akt wäre.

Obwohl die einzelnen Länder immer einen Ermessensspielraum bei der Festlegung von Ausnahmen haben, könnten die Bemühungen der EU um eine bessere Harmonisierung ihres Rechtsrahmens irgendwann zu erheblichen Änderungen des Abkommens mit Deutschland führen, insbesondere wenn entweder die Verbraucherschutzgesetze oder die Geldwäscherei-Vorschriften verschärft werden. Beide Bestimmungen sind Bedingungen im ursprünglichen Vertrag.

Sollte das passieren, könnte sich die Umsetzung allein für die internen Risikorahmen kleinerer Banken als äusserst schwierig, um nicht zu sagen teuer, erweisen.

Veralteter Ansatz

Die prinzipienbasierte Regulierung der Finma klingt in der Theorie vernünftig, und sie repräsentiert möglicherweise das, was sie im Rahmen der Schweizer Gesetzgebung möglich ist. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass sie an der Realität vorbeigeht und viele Beobachter den Ansatz als gut gemeint, aber veraltet bezeichnen.

Die Lehren aus der Finanzkrise, dem Libor-Skandal und vielen anderen Fällen zeigen, wie wenig praktikabel ein «Hands-off»-Ansatz ist, meinen dieselben Beobachter.

Einige gehen sogar so weit, zu behaupten, es sei so, als würde man einem Süchtigen, der Entzugserscheinungen hat, Drogen auf den Tisch legen und ihn dann ermahnen, wie ungesund die Drogen sind – in der vergeblichen Hoffnung, dass er sie nicht nimmt.

Institutionelle Sicherheitsvorkehrungen

Die Annahme eines strengeren Fairness-Regimes würde aber auch viele fragwürdige, alteingesessene Praktiken des Private Banking in Frage stellen. Dazu zählen etwa die fälligen Provisionen, wenn ein Kunde beschlossen hat, die Geschäftsbeziehung zu beenden. Dabei wird für jede verkaufte Position ein Betrag fällig, auch wenn in den meisten Fällen einfach die Übertragung der Wertpapiere und Anlagen auf eine neue Bank möglich wäre.

Ein weiteres Problem ist die uneingeschränkte Möglichkeit, diskretionäre oder andere anspruchsvolle Anlagemandate an schutzbedürftige Kunden oder Kunden über 65 Jahre zu verkaufen, ohne dass es zusätzliche aufsichtsrechtliche Schutzvorkehrungen gibt, wie dies in vielen anderen Finanzzentren der Fall ist.

Die Privatbankiers haben in der Tat Recht, wenn sie glauben, dass sich viele Faktoren zwischen sie und ihre Kunden drängen. Doch oftmals handelt es sich dabei um umsichtige und vernünftige Massnahmen. Und solange sich daran nichts ändert, dürfte jeder Versuch, den Status quo mit Frankreich, Italien oder der EU insgesamt zu ändern, wahrscheinlich auf einem Holzweg enden.