Trotz Digitalisierung würden viele Verträge noch immer am Küchentisch abgeschlossen, sagt Philipp Gmür, der seit einem Vierteljahrhundert für die Helvetia tätig ist. Als CEO läutet er nun aber den grossen Wandel in seinem Geschäft ein. Wie kommt er voran? 


Herr Gmür, Helvetia wandelt sich zu einem digitaleren Versicherer. Sie selber sind seit 25 Jahren im Unternehmen tätig, gehören sozusagen zur alten Garde. Wie gehen Sie mit der Transformation um?

Veränderung beginnt an der Spitze des Unternehmens, das heisst auch bei mir. Es ist ja nicht so, dass ich als CEO in einem Elfenbeinturm sitze. Helvetia hat sich in den gesamten 25 Jahren, in denen ich für das Unternehmen tätig war, laufend verändert. Ich mich selber auch, was wiederum Veränderungsimpulse gebracht hat. Insofern ist das ein natürlicher Prozess.

Es wirken enorme Kräfte auf ihr Geschäft ein: Andere Kundenbedürfnisse, neue Anbieter und globale Tech-Konzern stossen vor. Wie reagieren Sie auf all das?

Es stimmt, bezüglich der Automatisierung und Vereinfachung von Prozessen stehen wir unter Druck. Die Digitalisierung bietet jedoch riesige Chancen: beispielsweise bei der Analyse und der Nutzung unserer Daten.

«Ich muss einen ‹sense of urgency› schaffen»

Noch wichtiger sind aber die deutlich grösseren Möglichkeiten zur Interaktion mit unseren Kunden.

Stossen Sie auch auf Widerstände im Unternehmen?

Ja, aber das ist eine natürliche und menschliche Haltung. Veränderung braucht Druck, ohne den geht es nicht. Ausserdem ist unsere Industrie im Kerngeschäft nach wie vor sehr profitabel, was den Willen zur Veränderung nicht gerade fördert.

Darum muss ich zusammen mit der Geschäftsleitung hier im Unternehmen einen ‹sense of urgency› schaffen.

Mussten Sie personelle Veränderungen vornehmen?

Ja, das ist teilweise geschehen. Letztlich wird ein Kulturwandel durch die Unternehmensführung und damit durch die Mitarbeitenden vorgelebt.

In der Finanzbranche befürchten viele Institute, ihre Kundenschnittstelle an andere Anbieter, möglicherweise an grosse Tech-Konzerne zu verlieren. Ist das auch Ihre Sorge?

Für uns ist der Kundenzugang auch elementar und darum investieren wir hier sehr viel.

Beispielsweise, indem sie Startups kaufen, über die Sie Versicherungsprodukte vertreiben können?

Auch, ja. Aber auch in unserem Kerngeschäft. Hier werden Versicherungsverträge immer noch zum grossen Teil gleichsam am Küchentisch des Kunden abgeschlossen . Unser Ziel ist es, mit unseren Produkten möglichst früh präsent zu sein, wenn ein Absicherungsbedürfnis entsteht und deshalb neue Kundenschnittstellen zu erschliessen sind.

Können Sie das illustrieren?

Mit bestimmten Versicherungsprodukten, beispielsweise Hausrat- oder Haftpflicht, begleiten wir Kunden das ganze Leben lang. Es gibt im Leben auch Einzelereignisse, etwa den Kauf eines Konsumproduktes wie Elektronikgeräte, Rasenmäher, E-Bikes.

«Mit der Übernahme von Moneypark haben wir zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen»

Unser Ziel ist es, am Verkaufspunkt dieser Produkte präsent zu sein und uns in die Wertschöpfungskette der entsprechenden Anbieter einzuklinken.

Der Kauf der Firma Moneypark kann als Konsequenz der Negativzinspolitik interpretiert werden, nämlich dass Helvetia in Ermangelung anderer Renditequellen verstärkt in den Hypothekar- und Immobilienbereich vorstossen will. Stimmt das?

Es gibt einen grösseren Zusammenhang. Mit der Strategie «helvetia 20.20» wollen wir das Kerngeschäft stärken, neue Ertragsquellen erschliessen und Innovationen nutzen. Mit Moneypark haben wir zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen.

Wir haben mehr Kundenzugänge und eine neue Ertragsquelle, nämlich Gebühren für die Vermittlung von Hypotheken oder Lebensversicherungen, die unsere Bilanz zudem noch schonen. Wir müssen ständig prüfen, wo wir noch Ertragspotenziale haben, da es in der Tiefzinsphase eine riesige Herausforderung ist, unsere Erträge auf Jahrzehnte hinaus sicherzustellen.

Bereitet Ihnen der Run auf das Hypothekengeschäft angesichts der zunehmenden Fehlentwicklungen im Schweizer Immobilienmarkt keine Sorgen?

Das beschäftigt uns natürlich in mehrfacher Hinsicht: Unsere Bilanz muss gegenüber den verschiedensten Szenarien stressresistent sein.

«Das ist eine Forderung an die Politik»

Wir müssen Rendite im Negativzinsumfeld erwirtschaften und mit einem deutlich zu engen regulatorischen Korsett.

Die Anlagerichtlinien sind zu starr?

Ja, im Kontext der Negativzinsen entsteht ein systemisches Risiko, dass beispielsweise alle Lebensversicherer gleichartige Immobilien-Anlagen kaufen und damit eine Blase zu schaffen drohen. Wir müssen mehr Gestaltungsraum bei unserer Anlagepolitik bekommen. Das ist eine Forderung an die Politik.

Als Sachversicherer ist die Helvetia den Risiken des Klimawandels direkt ausgesetzt. Merken Sie über die Zeitreihe betrachtet eine Zunahme von Klimawandel bedingten Schäden?

Die Intensität von Wirbelstürmen nimmt bereits seit längerem zu und damit auch das Schadensausmass. Der Grund dafür ist auch, dass in solchen Risikogebieten eine Vermögensakkumulation stattgefunden hat.

«Die Probleme sind teilweise hausgemacht»

Auch in der Schweiz nehmen die Schadenssummen zu, selbst wenn wir in jüngster Zeit von grossen Elementarschäden wie Hochwasser weitgehend verschont geblieben sind. Die Probleme sind teilweise hausgemacht, da die Risiko- und Gefahrenkarten zu wenig ernst genommen werden.

In Bezug auf das Bauen?

Ja, in der Schweiz ist das Bauland strukturell knapp. Heute wird gebaut, wo unsere Grossväter und Urgrossväter niemals gebaut hätten.

Sie haben einmal das Ziel formuliert, bis 2020 ein Prämienvolumen von 10 Milliarden Franken zu erreichen. Daran werden Sie nun gemessen. Wie wollen Sie das schaffen?

Mit dieser Ambition wollten wir signalisieren: Wir wollen wachsen. Nun ist es vielfach nicht besonders schwer, relativ schnell zu wachsen, beispielsweise im Vorsorgegeschäft. Bei uns kommt Profitabilität jedoch vor Wachstum. Das ist die entscheidendere Messlatte.

«Wir schauen uns nach Übernahmezielen um, aber die sind rar gesät»

Mit rein organischem Wachstum wird es schwierig, die 10 Milliarden Franken zu erreichen. Wir schauen uns nach Übernahmezielen um, aber die sind rar gesät.

Was streben Sie an?

Wir schauen uns den deutschen und den spanischen Markt an und würden uns gerne im Sachversicherungs-Geschäft verstärken.

Wieviel können Sie ausgeben?

Unmittelbar 200 bis 300 Millionen Franken. Wenn ein Übernahmeziel perfekt passen und mehr kosten würde, wären wir überzeugt, die Finanzierung über den Kapitalmarkt sicherstellen zu können.


Der 56-jährige Philipp Gmür ist seit September 2016 Group CEO der Helvetia-Versicherungen. Er promovierte in Rechtswissenschaften an der Universität Freiburg, besitzt das Rechtsanwaltspatent und hält einen Masterabschluss der Duke University School of Law in Durham in North Carolina. In seinem beruflichen Werdegang übte er zunächst verschiedene Funktionen als Jurist aus, bevor er 1993 zur Helvetia stiess, wo er über die Jahre verschiedene Führungsfunktionen übernahm. Als Konzernchef der Gruppe verantwortet er auch die Umsetzung der 2016 initiierten Unternehmensstrategie «helvetia 20.20». Er ist Vorstandsmitglied im Schweizerischer Versicherungsverband (SVV).