«Fokus aufs Kerngeschäft» heisst inzwischen die Losung bei führenden Schweizer Versicherern und Banken. Den digitalen Ökosystemen wird hingegen der Hahn zugedreht. Das ist aus mehreren Gründen keine gute Idee, findet finews.ch.
Jetzt treten auch die Baloise-Lenker bei der Innovation hart auf die Bremse. Wie der Basler Allversicherer am Dienstag im Rahmen der Jahresberichterstattung mitteilte, will sich das Unternehmen stattdessen mehr auf das Kerngeschäft mit Versicherungen konzentrieren.
Bereits ist beim Assekuranzkonzern der Entscheid gefallen, keine Neuinvestitionen für den Ausbau der Ökosysteme in den Bereichen «Heim» und «Mobilität» mehr zu tätigen. Im September will das Unternehmen dann bei der Firmenstrategie über die Bücher.
Fleissig in Startups investiert
Beobachter reiben sich die Augen. Noch vor wenigen Jahren erwarben die Basler in schneller Kadenz Minderheitsbeteiligungen an Schweizer Jungfirmen, um eben jene Ökosysteme zu erweitern – im Bereich «Home» etwa an den Jungfirmen Batmaid, Devis.ch, Bubble Box und Movu. Wäre es nach dem ehemaligen Chef Gert De Winter gegangen, wäre Baloise im Jahr 2024 als technologiegetriebener Finanzkonzern dagestanden.
Sein Nachfolger Michael Müller sagte nun am heutigen Dienstag: «Im Rahmen der Analyse des Gesamtportfolios und vor dem Hintergrund des makroökonomischen Umfelds sind wir zum Schluss gekommen, dass wir uns stärker auf unser Kerngeschäft fokussieren. Hier sehen wir das beste Wachstums- und Ertragspotenzial».
Operativ nachvollziehbar
Vor dem Hintergrund eines durchzogenen Jahresergebnisses und enormen Schadensbelastungen durch Unwetter ist der Entscheid zumindest wirtschaftlich nachvollziehbar. Zudem zeigt sich: der Baloise-Chef ist in guter Gesellschaft. Die St. Galler Konkurrentin Helvetia entschied bereits vergangenen Herbst, ihre Immobilien-Tochter Moneypark in den Konzern zu integrieren, und schrieb in diesem Zuge Millionen auf der Beteiligung ab.
Die Mobiliar, die genossenschaftlich organisierte Versicherung aus Bern, zeigte sich Anfang März nicht minder rabiat. Sie kündigte an, die firmeneigene Sparte Geschäftsentwicklung aufzulösen. Vom Bereich waren zuvor ebenfalls äusserst umtriebige Startup-Investments ausgegangen. Die Mobiliar begründete den Schnitt ganz ähnlich wie nun die Baloise. Die Massnahme erfolge aufgrund der Weiterentwicklung der Strategie und mit einem verstärkten Fokus auf das Kerngeschäft der Versicherungen und Vorsorge, hiess es damals.
2020 noch ein Dschungel
Solides Kerngeschäft statt waghalsige Expeditionen in geschäftsfremde Territorien: den trendigen Ökosystemen, mit der sich die hiesige Finanzindustrie vor allem im boomenden Immobilien-Segment brüstete, wird augenscheinlich gerade das Wasser abgedreht. Stellte finews.ch im Jahr 2020 noch einen Dschungel an solchen Angeboten fest, in dem sich Grössen wie etwa die UBS, Raiffeisen, Valiant, Helvetia, Baloise, Swiss Life und die Mobiliar tummelten, droht den Angeboten nun der strategische Kahlschlag.
Der Finanzbranche deswegen Wankelmütigkeit vorzuwerfen, greift aber zu kurz. Externe Faktoren haben das Umfeld für jene Vorhaben grundsätzlich verändert.
Zinswende schafft neue Spielregeln
So hat sich mit der Zinswende nicht nur das Wagniskapital verteuert. Auf viel weniger riskanten Anlagen lässt sich mittlerweile auch wieder leidlich Rendite erzielen. Dies hat weltweit dazu geführt, dass Startups mit Rentabilität punkten müssen und nicht mehr bloss in hohem Tempo wachsen können.
Die Belastungen durch schwere Unwetter, die als Symptom des Klimawandels verstanden werden können, haben das Umdenken im Falle der Versicherer wohl zusätzlich beschleunigt.
Damit steigt der Druck auch bei den Entscheidern. Galten Finanz-CEO ab dem Jahr 2015 als ewiggestrig, wenn sie nicht in Netzwerk von Startups um ihren Konzern zimmerten, wird ihnen jetzt von ihren Anspruchsgruppen vorgeworfen, nicht bei den sprichwörtlichen Leisten zu bleiben. Der Rückzug von Raiffeisen Schweiz aus dem Wohnen-Joint-Venture Liiva mit der Mobiliar ist 2022 nicht zuletzt auf Druck der Genossenschaftsbanken erfolgt.
Etwas heisse Luft ablassen
Wer schon immer Mühe hatte, die Schalen mit Gummibären auf den Tischen, die hippen Büros und den Vormarsch von Turnschuhen und Bärten mit Banking und Versicherungswesen zu verbinden, sieht sich nun in seinem Verdacht bestätigt. Und richtig: es kann der Branche nicht schaden, etwas heisse Marketing-Luft abzulassen.
Würden die Ökosysteme künftig aber der Vergandung preisgegeben, wäre dies aus mehreren Gründen ein Verlust. Dies erstens wegen den umfangreichen Geldern, die bereits in den Aufbau geflossen sind. Zweitens, weil die Vorhaben in den allermeisten Fällen dem Kundenwunsch mehr Gewicht gegeben haben. Dank Moneypark & Co sind etwa Hypotheken zu einem hochtransparenten Allgemeingut geworden. Heute lassen sich Hauskredite online verglichen, auswählen und innert kürzester Zeit abschliessen.
Lassen die Finanzkonzerne dort nun die Zügel schleifen, wären Kundinnen und Kunden am Ende die Leidtragenden.
Die Infrastruktur für den nächsten Boom bauen
Und drittens müsste sich die Branche den Vorwurf der Zyklizität gefallen lassen. Dabei könnten die Finankonzerne gerade von einem Industriezweig lernen, dem sie weiterhin mit viel Argwohn begegnen: Der Krypto-Szene. Branchenteilnehmer haben dort gerade zwei Jahre «Krypto Winter» hinter sich. Statt aber die Flinte ins Korn zu werfen, haben die Akteure die Zeit genutzt, um in die Infrastruktur des nächsten Booms zu investieren.
Angesichts der haussierenden Preise von digitalen Token und Coins ist dieser nun eingetroffen – und neue Angebote spriessen dank monatelanger Vorbereitung wie Pilze aus dem Boden. Dem Finanz-Establishment bleibt dabei, einmal mehr, nur eines übrig: auf den fahrenden Zug aufzuspringen.