Die Wall-Street-Legende war eng mit einem Schweizer Bankier befreundet, der ebenfalls die grossen Trends der Finanzwelt voraussah.
Nur wenige Marktstrategen haben die internationale Finanzwelt in den vergangenen vier Jahrzehnten so stark geprägt wie der Amerikaner Byron Wien. Der in Chicago geborene Börsenguru gab während seiner langjährigen Karriere unter anderem bei der US-Private-Equity-Gesellschaft Blackstone und dem Investmenthaus Morgan Stanley eloquent und messerscharf Einblicke in die Wirtschaft, die Finanzmärkte oder in die Weltpolitik.
Seine Analysen machten ihn zu einer der einflussreichsten Stimmen an der Wall Street. Am Mittwoch ist die Investmentlegende im Alter von 90 Jahren verstorben.
Jährliche Liste der zehn Überraschungen
Seit 2009 war Wien für Blackstone tätig, zuletzt als Vice-Chairman im Bereich Private Wealth Solutions. Für die weltgrösste Private-Equity-Gesellschaft reiste er viel um die Welt, um Investoren, Regierungsvertreter und Notenbanker zu treffen.
Weltweit bekannt wurde er jedoch vor allem durch seine jährliche Liste der zehn Überraschungen, die er in den vergangenen 38 Jahren jeweils zu Beginn eines Jahres aufstellte. Er begann damit 1986, als er noch Chef-Anlagestratege bei Morgan Stanley war.
Pflichtlektüre an der Wall Street
Seine Liste wurde schnell zu einer Pflichtlektüre, da sie sich auf unerwartete Finanzereignisse konzentrierte, die er für das kommende Jahr erwartete. Auch wenn er rückblickend oft daneben lag, bewegten seine Einschätzungen regelmässig die Börse, zumal er mit seinen Vorhersagen ebenso oft richtig lag.
Wie Wien später verriet, wollte er sich damals von anderen Anlagestrategen abheben. Ein Grund für die Liste der Überraschungen war, die Investoren zu provozieren und sie dazu zu bringen, das Unerwartete in Betracht zu ziehen. Morgan Stanley hatte anfangs grosse Vorbehalte gegen diese Idee.
Tiefe Freundschaft mit Schweizer Privatbanker
Wien liebte es, Kontakte zu knüpfen und sich mit einflussreichen Leuten zu treffen; weniger bekannt ist, dass er einem Schweizer Bankier stets höchsten Respekt zollte. In seinen Essays bezeichnete er den Financier, mit dem ihn eine tiefe Freundschaft verband, sogar als «The Smartest Man in Europe».
Lange Zeit blieb unklar, mit wem er stundenlange Gespräche über die Finanzwelt führte. Später stellte sich heraus, dass es sich um den 2016 verstorbenen Genfer Bankier Edgar de Picciotto handelte, wie finews.ch bereits früher berichtete.
Jüdische Wurzeln
De Picciotto hatte wie Wien jüdische Wurzeln. Er war 1955 in die Schweiz eingewandert und hatte später die heutige Union Bancaire Privée (UBP) gegründet, die inzwischen zu den grössten Privatbanken der Schweiz zählt. Kennengelernt hatten sich die beiden in den 1980er-Jahren auf einer Konferenz von Morgan Stanley.
Offenkundig verstand es der Schweizer Bankier, regelmässig die ganz grossen Trends in der Finanzwelt vorauszusehen – und die Wall-Street-Legende damit nachhaltig zu inspirieren.
Fehleinschätzung bei Elon Musk
Vielleicht hätten de Picciottos Einschätzungen Wien bei seinen diesjährigen Prognosen geholfen. Denn seine Vorhersagen für das laufende Jahr sind bislang eher durchwachsen. Gemeinsam mit Joe Zidle, dem anderen Blackstone-Strategen, lag er unter anderem mit seiner Einschätzung richtig, dass die US-Notenbank in diesem Jahr länger an der Zinsschraube drehen wird.
Dafür schätzte er Chinas Wirtschaft falsch ein und lag mit seiner Prognose vom Ende des Krieges zwischen Russland und der Ukraine daneben. Eine weitere Vorhersage des Duos wird wohl auch nicht eintreffen: «Elon Musk wird Twitter bis Ende des Jahres wieder auf Erholungskurs bringen».
20 Lektionen fürs Leben
Wien veröffentlichte auch eine Liste mit 20 Lektionen, die er in den ersten 80 Jahren seines Lebens gelernt hatte. Dazu gehörten: ausgiebiges Reisen, ständiges Lesen und intensives Networking. Die letzte Lektion war bezeichnenderweise, sich niemals zur Ruhe zu setzen.
Wie die Finanzkoryphäe sagte: «Wer ewig arbeitet, kann ewig leben. Ich weiss, dass es viele biologische Beweise gegen diese Theorie gibt, aber ich halte mich trotzdem daran.» Seinem letzten Rat folgend, arbeitete er bis zu seinem Tod bei Blackstone.