Raiffeisen ist nach den 16 Jahren unter der Führung von Pierin Vincenz definitiv keine «Bauern-Bank» mehr, sondern ein führender Schweizer Finanzdienstleister. Einige Baustellen musste der neue CEO Patrik Gisel hingegen doch übernehmen.
Die Veränderungen, welche die Raiffeisen Gruppe unter der Führung Pierin Vincenz in den letzten 16 Jahren durchlebt hat, sind enorm – und unterm Strich auch enorm erfolgreich.
War sie zuvor eine verschlafene Genossenschaftsbank auf dem Land mit einer vergleichsweise anspruchslosen Kundschaft, ist sie heute als Retailbank und Kreditinstitut eine Macht mit Ambitionen im Private Banking und Asset Management.
Diese bemerkenswerte Entwicklung hat die Raiffeisen ohne Fehltritte und wie sich angesichts der am Freitag präsentierten Geschäftszahlen zeigt, auch ohne zu viel Risikonahme geschafft.
Wo Licht ist, ist auch Schatten
Patrik Gisel hat von Vincenz ein kerngesundes und weiterhin aufstrebendes Institut übernommen. Das lässt sich an einigen Pluspunkten festhalten – die zu Tage getretenen negativen Punkte werden hier aber auch nicht verschwiegen.
Die positiven Hinterlassenschaften von Vincenz:
1. Die Diversifikation funktioniert
Vincenz war unter anderem angetreten, der Raiffeisen Gruppe neben dem Zinsgeschäft weitere Ertragsquellen zu eröffnen, das heisst vor allem im Anlagegeschäft mit Kunden. Das Ziel lautet hier, nur noch zwei Drittel der Erträge aus dem Zinsgeschäft zu generieren, ein Drittel aus den übrigen.
Dort ist Raiffeisen noch nicht ganz: 2015 kamen 72 Prozent der Erträge aus dem Zinsgeschäft. Die Entwicklung der letzten fünf Jahre zeigt aber, dass beispielsweise das Kommissions- und Dienstleistungsgeschäft stark an Bedeutung gewonnen und 2015 fast doppelt so hohe Erträge erzielt hat wie 2011.
2. Das Hypothekargeschäft ist stabil
Die Raiffeisen Gruppe gehört zu den grössten Profiteuren des Immobilienbooms in der Schweiz. Ihr Marktanteil im Hypothekenmarkt beläuft sich inzwischen auf 16,9 Prozent. Ihr Wachtum ging teils zu Lasten der Grossbanken.
Der Durchmarsch der Raiffeisen Gruppe war verschiedentlich beargwöhnt worden. Die Kreditvergabe sei zu aggressiv, das Wachstum gelinge nur, weil die Bank auch höhere Risiken nähme.
Bislang hat sich nur gezeigt, dass Raiffeisen die Risiken im Griff hat. Die Wertberichtungen für Ausfallrisiken sanken auf 0,14 Prozent der Kundenausleihungen. Die effektiven Kreditverluste blieben mit 0,02 Prozent der Ausleihungen stabil.
Raiffeisen hat sich an den «Hot Spots» im Schweizer Immobilienmarkt nicht stark exponiert. 92 Prozent aller Hypotheken sind kleiner als 1 Million Franken.
3. Die Kapitalsituation ist komfortabel
Vincenz hat neben den Investitionen in die Gruppe auch hunderte Millionen für Zukäufe ausgegeben: Beteiligungen an Helvetia, Vontobel, Leonteq sowie die Akquisitionen der Notenstein Privatbank und der heutigen Vescore-Einheiten im Asset Management.
Sein Nachfolger Gisel hat Ende 2015 noch 10 Prozent an der IT-Schmiede Avaloq gekauft, wohl auch für einen dreistelligen Millionenbetrag. Vincenz hat dabei einerseits ein gutes Händchen bewiesen: Die Vontobel-Beteiligung wurde mit über 40 Millionen Franken Gewinn wieder verkauft. Die Veräusserung eines Teils der Leonteq-Aktien brachte 2015 62 Millionen Franken, die restlichen 29 Prozent an Leonteq bilden ein schönes Kapitalpolster in der Raiffeisen-Bilanz.
Die Einkaufstour von Vincenz ging andererseits auch nicht zu Lasten des Eigenkapitals. Dieses ist mit 16,4 Prozent sehr solide, womit Raiffeisen die Anforderungen bezüglich Systemrelevanz erfüllt.
Hier zeigt sich der Vorteil des Genossenschaftsmodells, das eine sogenannte Gewinnthesaurierung erlaubt: An die Teilhaber werden jeweils nur rund 5 Prozent des Gewinns verteilt, der grosse Rest wird wieder verwendet oder kann dem Eigenkapital zugeführt werden.
Die negativen Hinterlassenschaften von Vincenz:
1. Das Private Banking
Es war immer der Ehrgeiz von Vincenz gewesen, auch ein Wealth Management für gut betuchte Kunden anbieten zu können und in der Raiffeisen Gruppe Anlagekompetenz aufzubauen. Die Herauslösung der Notenstein Privatbank aus der Wegelin war ein Schritt dazu.
Mit ihrer Wachstumsstrategie in der Schweiz tut sich Notenstein aber enorm schwer. Mit der Übernahme und Integration der Basler Privatbank La Roche ist ihr zwar ein Sprung gelungen. Aber bezüglich organischem Wachstum lief bei Notenstein La Roche auch 2015 praktisch nichts.
Die Kundengelder, die akquiriert werden konnten, kamen über Raiffeisen-Kanäle rein. Vor den Medien sagte Gisel am Freitag, das müsse sich ändern. Faktisch muss Notenstein La Roche aber weitere Übernahmen tätigen, um die angestrebte Gewinnkraft zu erreichen. Ein Verkauf des Private Bankings steht laut Gisel aber nicht zur Diskussion.
2. Das Asset Management
Noch schwieriger ist die Situation im Asset Management, wo Raiffeisen die verzettelten Aktivitäten unter dem Namen Vescore führt. Die Gewinnschwelle ist noch meilenweit entfernt und es zeigt sich, dass Beat Wittmann mit dem Geld und Segen von Vincenz einzelne Geschäfte eingekauft hat, die nicht auf einer soliden operativen Basis standen.
Die Zusammenführung der einzelnen Boutiquen ist aus Kostengründen notwendig, aber komplex. Eine eigentliche Strategie muss noch ausgearbeitet werden.
Wie Gisel zu finews.ch sagte, habe Vescor die verwalteten Vermögen zwar auf 17 Milliarden Franken erhöhen können. Doch notwendig seien wohl 30 bis 35 Milliarden Franken, um bestehen zu können. Auch hier wird der Weg nur über Akquisitionen führen, was sich – wie im Private Banking – angesichts der Konkurrenz als sehr schwierig erweisen wird.
3. Die verschlafene Digitalisierung
Unter Vincenz hat Raiffeisen die Präsenz in der gesamten Schweiz zwar massiv ausgebaut – über 1'000 Filialen sind im Land verteilt. Aber den Digitalisierungstrend und Innovationen hat er vernachlässigt.
Erst vor knapp einem Jahr hat Raiffeisen eine Art Expertengruppe aufgestellt, welche die Aufgabe hat, zukunftsweisende Bankdienstleistungen zu entwerfen. Raiffeisen gehört definitiv noch nicht zu den digitalen Banken der Schweiz, wie auch eine Bewertung von finews.ch ergeben hat.
Vincenz' Nachfolger Gisel will den technologischen Rückstand zu anderen Schweizer Kreditinstituten nun aufholen. Als erster Schritt wird das Online-Banking ausgebaut. Geplant ist auch eine Hypotheken-Portal sowie eine Spendenplattform. Konsequenterweise müsse auch die Anzahl Filialen in den kommenden Jahren sinken, so Gisel. Er rechnet in einigen Jahren noch mit 700 bis 750 Raiffeisen-Filialen.