Marta Ra war früher Bankerin. Dann hat sie die Branche gewechselt. Heute behandelt sie Top-Manager, die nicht erst seit der Coronakrise an die Grenzen ihrer Belastbarkeit gelangen. Was nun neu ist, und welche Probleme es schon früher gab, erklärt die heutige Leiterin der Paracelsus Recovery Klinik im Interview mit finews.ch.


Frau Ra, in den gängigen Fernsehserien wirken Banker immer angespannt, nehmen Drogen oder sind gewalttätig, weil sie unter Stress stehen oder sonstige Probleme haben. Wie realistisch ist das?

Ich nehme an, Sie beziehen sich auf die Netflix-Serie «Bad Banks» oder den Hollywood Film «The Wolf of Wallstreet». Nun, diese Serien und Filme stehen für eine überspitzte Darstellung der Realität und entsprechen keineswegs dem Grossteil der Banker und der Branche. Dennoch existieren die darin behandelten Themen durchaus.

Die Finanzbranche ist stets dynamisch, allein schon wegen den Finanzmärkten ist Stress nichts Ungewöhnliches.

Warum?

Wir leben in einer Zeit voller Ungewissheit; diese kann die meisten Menschen sehr verunsichern. Sicherheit und Regelmässigkeit liegen uns mehr, da die subjektiv empfundene Vorhersehbarkeit angenehmer ist, und an die wir uns gewöhnt haben.

«Stress, Angstzustände, Depression, Konflikte in der Partnerschaft oder Existenzängste»

Finanzmärkte sind bekanntlich schwer vorhersehbar. Zudem verändert sich das Weltbild nicht nur aus politischer Sicht. Der Klimawandel und die Pandemie, in der wir uns momentan befinden, sind globale Themen, die wir als Einzelperson kaum beeinflussen können – das verunsichert und überfordert uns.

Zu was führt diese Überforderung?

Sie führt zu Stress, Angstzuständen, Depression, möglichen Konflikten in der Partnerschaft oder gar zu Existenzängsten.

Viele Führungskräfte im höheren Management haben nicht nur eine enorme Verantwortung zu tragen, sondern oft auch ein grösseres oder gar internationales Team zu verantworten.

Was hat sich in der Coronakrise daran geändert? 

Die neue Realität, also bei vielen Berufstätigen die Arbeit von zu Hause aus, wird unterschiedlich wahrgenommen und erlebt. Depressionen, die bereits vor der Coronakrise existierten, werden nun durch die Implikationen des neuen Alltags verstärkt, oder sie können nicht mehr versteckt werden – kommen ans Licht.

«Psychische Belastung oder Abhängigkeiten sind nach wie vor ein Tabuthema im Management»

Der Zugriff auf die gewohnte Stressbewältigung wie das Fitnessstudio, Vereine, oder auch nur schon Sozialkontakte fällt weg und birgt die Gefahr der Vereinsamung. Hier braucht es auch Gesprächspartner.

Kann man das mit den Symptomen eines Burnouts vergleichen?

Hier würde ich nicht von Burnout sprechen – hier handelt es sich lediglich um eine andere Art von Stress, der vor allem die Psyche belastet und als negativer Stress bekannt ist. Auch vor der Pandemie war der psychische Druck auf Führungskräfte allgegenwärtig.

Wenn Sie sagen, viele Berufstätige hatten diese Belastung schon vor der Krise, woher kommt sie denn?

Ein Grund ist sicher die Stigmatisierung. Psychische Belastung oder Abhängigkeiten sind nach wie vor ein Tabuthema im Management, aber auch generell in unserer Gesellschaft. Ein Augenarztbesuch wird als normal gewertet, eine Sitzung beim Psychologen hingegen kann als Schwäche, Labilität und fehlende Belastbarkeit interpretiert werden.

Führungskräfte sind im Durchschnitt ausdauernde, leistungsorientierte und zielstrebige Menschen, von denen viel abverlangt wird – und im Moment noch mehr als sonst.