Die Staatsbürgerschaft bestimmt die Position in einem hierarchischen globalen System. Wer mit der «richtigen» Staatsbürgerschaft geboren werde, erhalte Zugang zu einer Fülle an Möglichkeiten, Rechten und Sicherheit, was für Menschen mit einer «anderen» Nationalität praktisch unvorstellbar sei, erklärt Jürg Steffen im Interview mit finews.ch.
Jürg Steffen, warum ist der «richtige» Reisepass so wichtig geworden?
Nur etwa 15 Prozent der Weltbevölkerung besitzen eine Staatsbürgerschaft von Australien, Kanada, Japan, Südkorea, einem EU-Land oder den USA. Im Vergleich zu den restlichen 85 Prozent der Menschheit bilden sie sozusagen eine globale Elite in Bezug auf ihre staatsbürgerlichen Rechte. Die Kluft zwischen den hoch entwickelten, meist westlichen Ländern, und «dem Rest» ist enorm.
Der Ökonom Branko Milanovic hat berechnet, dass die 5 Prozent der Amerikanerinnen und Amerikaner mit den niedrigsten Einkommen immer noch ein Durchschnittseinkommen haben, das höher ist als das von 60 Prozent der Weltbevölkerung – sie liegen im 60 Perzentil. Zum Vergleich: Die Dänen mit den niedrigsten Einkommen liegen im 90. Perzentil der weltweiten Einkommensverteilung.
Im Jahr 1990 erlaubten erst etwa 25 Prozent der Länder in Europa und Amerika eine doppelte Staatsbürgerschaft. Inzwischen sind es 80 Prozent. Warum diese Veränderung?
Im 20. Jahrhundert liessen lange Zeit viele Staaten tatsächlich keine doppelten oder mehrfachen Staatsbürgerschaften zu. Sie verlangten von ihren Bürgerinnen und Bürger absolute «Loyalität».
«Aus Sicht des Einzelnen ist dieser Wandel entscheidend»
Zahlreiche Faktoren, darunter der Anstieg der internationalen Migration sowie das Ende des Kalten Krieges, führten jedoch dazu, dass die doppelte Staatsbürgerschaft rechtlich und normativ allmählich akzeptiert wurde. Heute sind mehrere Staatsbürgerschaften in den Industrieländern zur Norm geworden.
Aus Sicht des Einzelnen ist dieser Wandel entscheidend. Früher wurde die Nationalität bei der Geburt sozusagen zugewiesen und konnte nur unter grossen Schwierigkeiten geändert werden. Der Erwerb einer zweiten Staatsbürgerschaft bedeutete zumeist den Verzicht auf die erste.
Heute sind Staatsbürgerschaften respektive deren Besitz flexibler geworden. Soziologisch ausgedrückt hat sich die Staatsbürgerschaft von einem «zugeschriebenen Status» – der einem sozusagen aufgezwungen wird – zu einem «erreichten Status» gewandelt, der je nach individuellen Bemühungen verändert werden kann.
«Doppelte oder mehrere Staatsbürgerschaften bringen Dynamik in ein starres System»
Insofern bringt die Duldung doppelter oder mehrerer Staatsbürgerschaften Dynamik in ein starres System. Sie gibt den Menschen die Möglichkeit, sich innerhalb der internationalen Hierarchie zu verändern, was wiederum die globale Ungleichheit bis zu einem gewissen Grad reduziert.
Können Sie das noch etwas genauer erklären?
Die Veränderung des Wohsitzes ist ein wachsender Trend und die meisten Investitions-Migrationsprogramme beziehen eine ganze Familie mit ein, und viele erstrecken sich sogar auf Eltern, Geschwister und Grosseltern.
«Der Aufstieg des digitalen Nomadentums ist ein Ausdruck der Pandemie auf die menschliche Psyche»
Wenn eine Familie rechtlich Zugang zu mehreren Staaten hat, desto grösser sind ihre Möglichkeiten, und umso geringer ist sie länderspezifischen Risiken und globalen Unsicherheiten ausgesetzt.
Der bemerkenswerte Aufstieg des digitalen Nomadentums, ein Nebenprodukt von Covid-19, das von den Regierungen gerne aufgegriffen wird, ist ein starker Ausdruck der Pandemie auf die menschliche Psyche.
Warum überdenken viele Menschen seit Covid-19 ihre Nationalität wieder stärker?
Die Pandemie hat die Bedeutung der Wahlfreiheit der Staatsbürgerschaft oder des Wohnsitzes ins Rampenlicht gerückt. Viele Unternehmer, die monatelang in einem Land festsassen, suchen nun vermehrt nach Alternativen und interessieren sich für entsprechende Investmentoptionen.
«Interessanterweise steigt das Angebot in vielen Ländern»
Kommt hinzu, dass viele Regierungen die Pandemie respektive deren Verlauf zum Teil falsch eingeschätzt und auch falsch darauf reagiert haben. Das hat dazu geführt, dass sich viele Menschen in ihrem Land eingeengt fühlten und nach Alternativen für die Zukunft zu suchen begannen.
Dies war zwar schon vor der Pandemie der Fall, aber es wird immer deutlicher, dass man nicht nur einen Plan B, sondern auch einen Plan C und einen Plan D für die Zukunft haben muss.
Das erklärt die enorm gestiegene Nachfrage nach alternativen Wohnsitzen und Staatsbürgerschaften. Doch was kommt als Nächstes?
Interessanterweise steigt das Angebot in vielen Ländern. Immer mehr Regierungen kündigen neue Programme und zusätzliche Möglichkeiten für die Investment-Migration an.
Für wohlhabende Familien, die ihre Risiken absichern und sich alternative Geschäfts-, Karriere-, Bildungs- und Lebensmöglichkeiten auf weltweiter Ebene sichern wollen, sind das prüfenswerte Optionen.
Jürg Steffen ist CEO von Henley & Partners. Er verfügt über mehr als 30 Jahre Erfahrung in der Finanzbranche. Bevor er 2013 zu Henley & Partners stiess, war er persönlicher Berater in einem Family Office. Zuvor war er unter anderem Mitglied der Geschäftsleitung und Leiter der Abteilung Wealth Planning einer führenden Privatbank in Österreich. Ausserdem war er in der Vermögensplanung bei der UBS in Zürich tätig.