Der jüngste Tiefzinsrekord der EZB sollte uns keineswegs verblüffen. Denn wir müssen uns noch auf sehr lange Zeit mit Tiefstzinsen abfinden, schreibt Bill Gross. Die übermässige Verschuldung schafft klare Realitäten.
Bill Gross gründete 1971 die Anlagegesellschaft Pimco. Heute ist er Managing Director des Unternehmens, das zum Allianz-Konzern gehört, und verwaltet den zweitgrössten Fonds der Welt, den Pimco Total Return Fund.
Unsere heutige Zeit ist bald mehr virtuell als physisch, was ich zunehmend deprimierend finde – wenn auch nur aus dem Grund, dass ich nicht mehr Schritt halten kann. Ich besitze nicht einmal ein Handy. Ich ziehe das echte Vogelgezwitscher den Angry Birds immer noch vor. Die virtuelle Realität erscheint mir ein klein wenig irreal.
Abgesehen von den offensichtlichen Funktionen eines Computers oder Handys kommt es mir so vor, als nutzten viele der jüngeren Generationen diese Geräte in der Hoffnung, die Zeit darin wie in einer figurativen Flasche festhalten zu können. Sie bewahren ihre Fotos in einem Smartphone auf und nicht in dem sprichwörtlichen Container in Weinflaschen-Form, der einer vergangenen Zeit entstammt.
Ein Moment fürs hungrige Publikum
Ereignisse werden zum Beispiel durch YouTube- und Facebook-Apps erfasst und memorisiert, wodurch eine virtuelle Geschichte entsteht, die sich erhalten lässt.
Bei Sportveranstaltungen oder Konzerten erstaunt es mich jedes Mal aufs Neue, wie viele Tausend Handys nahezu im Einklang miteinander versuchen, einen bestimmten Moment festzuhalten, um ihn per Sofortnachricht an das hungrige Publikum zu schicken. Offensichtlich legen die Empfänger mehr Wert auf eine scheinbar unbegrenzte Anzahl an Erfahrungen aus ihrer eigenen unmittelbaren Vergangenheit oder jener anderer Personen als auf die Gegenwart.
Keine Gegenwart vor lauter Beschäftigung
Der bedauerlichste Aspekt dieser neuen, virtuellen Realität, die sich tief im «inneren Raum» abspielt, ist, dass mehr und mehr Menschen – insbesondere junge Menschen – daran glauben, dass es sich dabei um «natürliche» Erfahrungen handelt. Im Jahr 2011 kam eine Umfrage des Pew Research Centers zu dem Ergebnis, dass der durchschnittliche US-Teenager täglich zwischen 100 und 200 Kurznachrichten versendet. Irgendwann sind diese Leute von ihrem fieberhaften «Beschäftigtsein» möglicherweise derart eingenommen, dass sie ihre eigene Gegenwart nicht mehr wahrnehmen.
Und dennoch ist mein Appell, «den Moment zu erleben», ein äusserst schwieriger. Oder etwa nicht? Denn die Gegenwart kommt und geht; und stets bewusst in der Gegenwart zu bleiben ist fast so, als begebe man sich an einem heißen Sommerabend auf die Jagd nach Glühwürmchen. Ihr Licht blitzt auf und erlischt wieder, und schon ist das nächste Glühwürmchen an der Reihe. Ein Glühwürmchen einzufangen ist schwer, es sei denn, die eigenen Augen sind mit einem laserartigen Fokus ausgestattet.
Drei Jahre, fünf Jahre, wahrscheinlich noch viel länger
Pimcos Realität der vergangenen Monate lässt sich mit dem Begriff der Neuen Neutralität beschreiben. Nachdem wir im Jahr 2009 das Konzept der «Neuen Normalität» einführten – und das mit grossem Erfolg, leider jedoch ohne Markenschutz –, wagen wir uns nun weiter in die Zukunft vor und hoffen darauf, diese neue Metapher mit grossem Trara verstauen zu können, um erfolgreich Alpha zu generieren.
Die Neue Neutralität eher einen dauerhaften Charakter; der Zustand könnte noch mindestens über drei bis fünf Jahre anhalten, wahrscheinlich sogar noch viel länger.
Worum geht es? Nun, die Neue Neutralität bezieht sich auf den Leitzins der Notenbanken, der als Grundlage für die Kreditaufnahmekosten und letzten Endes für die Bewertung von Anleihen, Aktien und einer Reihe alternativer Anlagen dient. Wenn sich der Leitzins verändert, bewegen sich auch die anderen Vermögenspreise – nicht notwendigerweise parallel, früher oder später jedoch schon. Der Leitzins der Zentralbank ist von Natur aus die Investition mit der geringsten Rendite und der höchsten Qualität, zumindest über die meisten Anlagezyklen. Gleichzeitig dient er als Anhaltspunkt für alle anderen Vermögenswerte und entscheidet im Grunde genommen über ihre Preise.
Der reale Zins liess sich nicht einfangen
In den 1930er-Jahren stellte der berühmte Ökonom Irving Fisher die Theorie auf, dass sich der kurzfristige Leitzins zwar verändern kann, dies jedoch ausschließlich im Einklang mit der Inflation geschieht, und der «reale» US-Leitzins somit letztlich konstant bleibt.
Die Zeit und die Erfahrungen der Vergangenheit haben uns jedoch eines Besseren belehrt, und zwar, dass neben der Inflation auch das Wirtschaftswachstum, die Produktivität und neuerdings auch eine Reihe weiterer Faktoren für Zinsbewegungen verantwortlich sein können. Mit anderen Worten: Der «reale» Zins unterlag ähnlichen Schwankungen wie alles andere. Somit war es faktisch ebenso unmöglich, ihn zu einem bestimmten Zeitpunkt einzufangen.
Werfen wir nun einen Blick auf die Grafik oben – sie zeigt die vielleicht am häufigsten zitierte Analyse des realen US-Leitzinses aufzeigt: eine Studie der Fed-Gouverneure Thomas Laubach und John C. Williams, die in meinem Investment Outlook vom vorigen Monat Erwähnung fand. Sie illustriert nicht nur die beträchtlichen zyklischen Schwankungen, denen der reale Zinssatz unterlag, sondern zudem einen erheblichen Wandel des langfristigen «Trends», im Zuge dessen die Realrendite von mehr als vier Prozent in den frühen 1970ern auf derzeit unter zwei Prozent sackte (Tendenz fallend). Die jüngste Berechnung des aktuellen «zyklischen» Zinssatzes beläuft sich sogar auf -0,25 Prozent.
Das «Neue» daran ist also die Theorie, dass sich der Zins verändert hat. Was hat es jedoch mit der «Neutralität» auf sich?
Nicht zu heiss, nicht zu kalt
Die Antwort der Währungshüter lautet, dass sie als der Zinssatz definiert ist, zu dem Vollbeschäftigung, Trendwachstum und Preisstabilität herrschen. In einem Interview beschrieb US-Notenbank-Chefin Janet Yellen ihn unlängst sogar als «Goldilocks-Zins» – ein Zins, der nicht zu «heiss» und nicht zu «kalt» ist, sondern gerade richtig. Neutral.
Seine Definition erwies sich jedoch als wesentlich einfacher als seine Berechnung. Nichtsdestotrotz wartet auf all jene, die ihn berechnen können oder auch nur eine Annäherung daran erzielen, eine Schüssel mit leckerem Outperformance-Brei, ebenso wie ein gemütliches Alpha-Bettchen für das anschliessende Nickerchen.
Wachstumsraten im Gegenwind
Bislang waren die Vorsitzende der Federal Reserve und ihre Vorgänger bestrebt, den angemessenen Zinssatz auf Basis diverser Faktoren zu modellieren. 2005 schrieb der damalige Chef der Federal Reserve von San Francisco: «Analysen deuten darauf hin, dass der neutrale Realzins von einer Vielzahl unterschiedlicher Faktoren abhängt – vom Kurs der Fiskalpolitik, dem Trend der Weltwirtschaft, ... dem Niveau der Eigenheimpreise, den Aktienmärkten, dem Verlauf der Zinskurve, ... – und sich im Laufe der Zeit verändert.»
An dieser Logik haben wir bei Pimco nichts auszusetzen; allerdings scheint dieser Paragraf zwei recht wichtige «strukturelle» Aspekte auszulassen, die sich nicht nahtlos in die bevorzugten quantitativen Modelle der US-Notenbank integrieren lassen. Der erste wäre die Anerkennung, dass die Neue Neutralität überwiegend durch den Trend der realen Wachstumsraten bestimmt wird – Wachstumsraten, die angesichts der demografischen und technologischen Veränderungen und des verhalteneren Beschäftigungswachstums sowie der geringeren Erwerbsquote mit Gegenwind zu kämpfen haben.
Immer mehr neues Geld
Wenn sich das BIP-Wachstum aus dem Beschäftigungswachstum und der Produktivität zusammensetzt, waren in den vergangenen Jahren bedeutende Veränderungen zu beobachten, die die Wirtschaftsaktivität in der Neuen Neutralität um mindestens ein Prozent oder mehr reduziert haben dürften, als es die Statistiken von Laubach und Williams andeuten.
Hinzu kommt, was Janet Yellen und die anderen Notenbanker nicht gerne zugeben – zumindest nicht in der Öffentlichkeit: dass der neutrale Realzins vom Verschuldungsgrad des Finanzsystems abhängt. Ein Konzept von Hyman Minsky, das sich nicht problemlos auf die mathematischen Modelle übertragen lässt, da die Anzahl seiner historischen Beobachtungen begrenzt ist und es nicht über einen schicken digitalen Eingang verfügt, um es mit dem «Taylor-Modell» zu verbinden.
Das macht auch nichts – Pimco versucht stets, über den Tellerrand hinauszublicken. Fakt ist, dass Paul McCulley 2009/2010 noch eine ganz eigene Theorie über die Neue Neutralität hatte. Unser hoch verschuldetes System, so seine Theorie, umfasste immer mehr Billionen Dollar an «neuem Geld» – Overnight-Repos, die Eigenmittel der Fed, Kreditkarten et cetera –, das sich auf gleiche Weise über Nacht in Güter und Dienstleistungen umwandeln liess wie ein 20-Dollar-Schein.
Ein Realzins nahe der Nullgrenze…
Dabei gab es auf einen 20-Dollar-Schein nie Zinsen, und das völlig zu Recht – in Ihrer Geldbörse oder Ihrem Kleiderschrank erbrachte er glatte null Prozent. Sein Nutzen bestand lediglich darin, ein Tauschmittel zu sein und kein Wertspeicher mit steigender Verzinsung; das Gleiche gilt für das Gros der 75 Billionen US-Dollar an offiziellen und Schattenbank-Krediten, die derzeit in unserem System herumschwirren.
Vielleicht sollte der Preis der «realen» kurzfristigen Darlehen aufgrund des steuerpflichtigen Charakters der Zinsen bei rund 50 Basispunkten liegen – so die Theorie von McCulley –, jedoch nicht darüber.
Es sollte eine Neue Neutralität mit einem Realzins nahe der Nullgrenze geben, da dieser in so hohem Maße von den Finanzmärkten und nicht von der Realwirtschaft abhängt.
…und weshalb dies noch lange so bleiben muss
Hinzu kommt ein weiterer Gedanke: dass der künftige Leitzins in der Neuen Neutralität extrem niedrig sein dürfte. Es erscheint mir als logisch, dass das Niveau der Realrendite geringer sein muss, je stärker eine Volkswirtschaft auf den Finanzen basiert und je höher ihre Schulden sind, um ein Lehman-ähnliches Erdbeben zu verhindern. Wenn der Preis des Geldes als Basis für den Wohlstand eines Landes dient – was in den industrialisierten Ländern der Welt immer häufiger der Fall ist –, müssen die Notenbanken die Kreditkosten entsprechend verringern, um diesen Wohlstand aufrechtzuerhalten – und sie darüber hinaus auch niedrig halten.
Wie niedrig? An dieser Stelle könnte ein wenig Geschichte hilfreich sein. Zwischen 1945 und 1982, als die Schuldenlast in den USA und Großbritannien auf ähnlich hohem Niveau war, belief sich der reale Leitzins auf durchschnittlich –31 beziehungsweise –133 Basispunkte. In anderen Industrienationen Europas und in Japan war er sogar noch niedriger. Diese Statistiken stammen aus einem Paper mit dem Titel «The Liquidation of Government Debt», das 2011 von Carmen Reinhartmitverfasst wurde.
Die Korrelation zwischen hoher Verschuldung und niedrigen Zinsen wurde uns zuletzt durch die Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte in Japan vor Augen geführt. Auch wenn der reale Leitzins der Neuen Neutralität dort geringfügig positiv war, lag dies eher an der unbeabsichtigten Deflation als an der mangelnden Bereitschaft der Bank of Japan, den normalen Leitzins nahe dem Nullpunkt zu halten.
Übermässige Verschuldung = künstlich niedrige Leitzinsen = Neue Neutralität = Realzins von 0 bis 50 Basispunkten in den USA sowie in zahlreichen, weniger entwickelten Volkswirtschaften: Wir sollten uns daran gewöhnen – und hoffentlich auch davon profitieren.
Schlussfolgerungen für Anleger
Das Schwierige dabei ist, davon zu profitieren. Denn die realen und nominalen Zinssätze der Neuen Neutralität sind letzten Endes eine «Steuer» für Sparer und Anleger, die den Schuldnern zugutekommt. Aber es gibt Möglichkeiten, dagegen vorzugehen: Die meisten beinhalten einen Fokus auf attraktiver bewertete Arten von «Carry» als die Duration – insbesondere dann, wenn zehnjährige US-Staatsanleihen mit 2,50 Prozent oder weniger rentieren.
Zu diesen alternativen Ertragsarten zählen Übergewichtungen von Risikoprämie, Volatilität, Zinskurve oder Währung, die zwar ebenfalls als künstlich bewertet erscheinen, was jedoch immer weniger der Fall ist.
Des Weiteren gilt: Wenn die Zinsen der Neuen Neutralität von Vorteil für die Schuldner und nicht für die Sparer sind, so entspricht es dem gesunden Menschenverstand, bei der Strukturierung eines Portfolios die Rolle eines konservativen Schuldners einzunehmen. Dabei sollte man lediglich vorsichtig vorgehen und auf künftige Minsky-Momente achten, die nicht bequem in einem Handy, einer Flasche oder auch einem diversifizierten Portfolio aus Aktien, Anleihen oder alternativen Anlagen festgehalten werden können.
Die Neue Neutralität legt nahe, dass die realen Leitzinsen über einen längeren Zeitraum fest auf niedrigem Niveau verankert bleiben. Wenn dem so ist, bedarf es eines neuen Ansatzes, einer neuen Realität für das Portfoliomanagement.
Resümee:
- Die Neue Normalität entwickelt sich zu einer Neuen Neutralität.
- Die Neue Neutralität beschreibt einen Leitzins, der gerade richtig ist – nicht zu restriktiv, nicht zu stimulativ.
- Pimco ist überzeugt, dass der reale Leitzins in der Neuen Neutralität nahe null liegt – im Gegensatz zu den zwei bis drei Prozent der vorangegangenen Jahrzehnte.
- Wenn die Zinsen der Neuen Neutralität niedrig bleiben, unterstützt dies die aktuellen Preise der Finanzanlagen. Diese würden somit offensichtlich weniger zu einer Blasenbildung neigen.