Die verordnete Abwesenheit vom Büro zeitigt noch eine unerwartete Folge. Mitarbeitende melden Übergriffe viel häufiger, wie Whistleblower-Experten feststellen.
Das anonyme Telefon bei der Telag hat in den vergangenen Monaten viel öfter geschrillt. Wie Thomas Wittkopf, der Geschäftsführer der Schweizer Telefondienstleisterin, gegenüber finews.ch erklärt, ist die Zahl der Eingaben seit Beginn der Coronakrise um 60 Prozent gestiegen. Telag bietet seit Jahren auch Dienste für den Umgang mit Whistleblowern in Unternehmen an. Für eine Schweizer Grossbank hat die Firma eine entsprechende Hotline eingerichtet.
Nicht nur gehen bei Wittkopf viel mehr der anonymisierten Meldungen ein – auch deren Inhalt hat sich verändert. «Während früher vor allem Vorteilsnahme, Preisabsprachen, Spesen-, oder Lohnbetrug sowie Bevorteilung von Lieferanten gemeldet wurden, gehen jetzt häufiger Meldungen zu Übergriffen und Mobbing ein», berichtet der Manager. Er beziffert den Anteil solcher Meldungen inzwischen auf bis zu 65 Prozent des gesamten Aufkommens.
Keine Kavaliersdelikte
Den Reim, der sich der Spezialist darauf macht, ist folgender: Das Bewusstsein, dass es sich bei Mobbing oder Übergriffen nicht um Kavaliersdelikte handelt, dringe allmählich durch. Und wohl sei es auch so, dass Angestellte mit der Fernarbeit Abstand zum Betrieb gewinnen. «Sie entschliessen eher, sich zu wehren», glaubt Wittkopf. Das dies geschieht, ist überfällig – Übergriffe etwa sind Delikte, die strafrechtlich geahndet werden.
Doch noch riskieren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiten so einiges, wenn sie sich über die Taten von Kollegen und Chefs nicht mehr schweigen wollen. Selbst die EU, die eine eigene Whistleblower-Richtlinie kennt, hat diese Themen nicht in diese Regelung aufgenommen. Den Mitgliedsstaaten steht es damit frei, den Anwendungsbereich der EU-Whistleblower-Richtlinie auszuweiten.
Richter urteilen über «Verrat»
In der Schweiz haben Whistelblower nach wie vor einen schweren Stand, wie auch finews.ch berichtete. So hatte im Jahr 2020 eine Vorlage zu einer Whistleblower-Norm, die mehr Rechtssicherheit für Hinweisgeber hätte bringen sollen, im Nationalrat keine Chance. Weiterhin entscheiden hierzulande Gerichte, ob der «Verrat» von Firmeninterna rechtens ist. Mittlerweile ist das Interesse im Parlament aber wieder gestiegen.
Entsprechend ist es an den Firmen, die Hinweisgeber in den eigenen Reihen zu schützen. Das sollte eigentlich im Eigentinteresse liegen – dringen nämlich unschöne Interna nach aussen, werden die Unternehmen zu Getriebenen. Hingegen stellen Experten wie Wittkopf den heilsamen Effekt eines «insitutionalisierten» Hinweisgebertums fest: Die Hemmschwelle zu Verstössen steige, und die Unternehmenskultur werde offener und transparenter.