Arndt Gossmann hat im Zuge der Pandemie neue Wege eingeschlagen: Mit einem Gemeinschaftsunternehmen, das er mit der schweizerisch-dänischen Techfirma Deon Digital aufgebaut hat, bietet er eine intelligente Digitalisierung von Schadenakten an.
Mit der Geschäftsentwicklung in den ersten Monaten des laufenden Jahres zeigt sich Arndt Gossmann zufrieden, sechs Kunden hat das Unternehmen bereits gewonnen. Zielgruppe sind nicht nur Gesellschaften, die Bestände kaufen wollen, erläutert er im Interview. Interessiert sind auch Versicherer, die ganz neue Einsichten in ihre Bestände erhalten wollen, um Underwriting und Schadenbearbeitung zu verbessern.
Die Abwicklung von Versicherungsportfolien steht bei Gossmann & Cie., seit vielen Jahren eine bekannte Grösse im Markt für Run-off und Bestandsabwicklungen, aktuell nicht mehr oben auf der Agenda. Die 2020 von ihm übernommene Schwarzmeer- und Ostseeversicherung (Sovag) hat bereits nach der Übernahme ihre Lizenz zurückgegeben, sein Risikoträger auf Malta folgte. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass im Zuge der Pandemie die Zahl der Run-off-Transaktionen im Markt zeitweise um 90 Prozent zurückgegangen ist.
Daten bieten grosse Chancen
Sein Augenmerk liegt stattdessen auf einem Gemeinschaftsunternehmen namens DGTAL, das er nach einer zweijährigen Forschungskooperation mit der schweizerisch-dänischen Technologiefirma Deon Digital gegründet hat. «Unser Fokus liegt darauf, eine Serviceplattform aufzubauen, mit der die Schadenbearbeitung unabhängig von der bestehenden IT unterstützt werden kann», sagt er im Interview. Daten spielen dabei eine zentrale Rolle. Den Versicherern bieten sie grosse Chancen, allerdings nur dann, wenn sie auch genutzt werden. Den grössten Hebel sieht Gossmann in der Schadenbearbeitung. «Hier werden 60 bis 70 Prozent der Prämie eingesetzt.»
DGTAL will Versicherern dabei helfen, verschiedene Arbeitsschritte im Backoffice digitalisieren, um die Prozesse in der Schadenbearbeitung zu beschleunigen und zu verbessern. Die erste Anwendung, mit der das Unternehmen an den Markt gegangen ist, wandelt eingescannte Schadenakten in maschinenlesbaren Text um, sodass alle Informationen daraus digital zur Verfügung stehen. «Ähnlich wie bei einer Google-Suche können Schadenexperten das Portfolio dann nach Schlagworten durchforsten oder gezielte Abfragen und Analysten vornehmen», erklärt er.
Am führenden Standort für Data Science
Mit der Geschäftsentwicklung in den ersten Monaten ist Gossmann, der in Kürze den CEO-Posten der Gesellschaft annimmt, sehr zufrieden. «Das Interesse, auch von deutschen Versicherern, ist immens», sagt er. Das Unternehmen arbeitet mit seinen rund 15 Mitarbeitern von Zürich, Hamburg und Kopenhagen aus.
«Unsere Top-Entwickler sitzen in Kopenhagen, einem der führenden Standorte für Data Science.» DGTAL arbeite mit einer eigens entwickelten Programmiersprache, die in der dänischen Hauptstadt entstanden ist. Grossen Wert legt Gossmann auf enge Zusammenarbeit von erfahrenen Schadenbearbeitern, Computerexperten und Datenanalysten.
Sechs Kunden in den ersten Monaten
DGTAL hat inzwischen sechs Kunden. Obwohl das Unternehmen aus dem Bereich Bestandsübertragung heraus entwickelt wurde, richtet sich das Angebot nicht nur an Unternehmen, die die Dienstleistungen im Rahmen einer Due Dilligence im Vorfeld eines Kaufs oder Verkaufs von Versicherungsbeständen nutzen wollen, um einen besseren Einblick zu erhalten. «Die Idee hat sich aus den Erfahrungen mit Bestandsübertragungen entwickelt, der Nutzen ist aber nicht nur auf Verkäufer oder Käufer beschränkt», so Gossmann. Nur einer der sechs Kunden nutzt das System mit Blick auf eine Bestandsübernahme. «Die anderen fünf sind Versicherer, die es für die Analyse der eigenen Bestände und zur Verbesserung ihrer Schadenbearbeitung einsetzen.»
DGTAL bietet das System als «Software-as-a-Service» an, es funktioniert damit unabhängig vom System der Versicherer. Unternehmen zahlen für den Service einen Betrag im einstelligen Euro-Bereichim pro Akte. «Wir haben nach zwei Jahren Forschung die ersten Umsätze, profitabel sind wir aber noch nicht», berichtet Gossmann. «Unser Augenmerk liegt jetzt auf der zügigen Expansion und der technologischen Weiterentwicklung.»
Schadenbearbeitung läuft traditionell – und behäbig
Die Schadenbearbeitung in der Versicherungsbranche läuft laut Gossmann seit Jahrzehnten im Wesentlichen gleich ab – nämlich reaktiv. Akten werden erst dann in die Hand genommen, wenn neue Informationen zu einer Schadenmeldung reinkommen, oder infolge einer Wiedervorlage. Ohne konkreten Grund gehe kein Versicherer mehr als einmal im Jahr mit grossem Aufwand die Schadenakten durch, um Probleme zu erkennen, Einsichten zu erlangen und Verbesserungspotenzial zu erkennen, so Gossmann.
Auch das Underwriting basiere derzeit noch stark darauf, Ereignisse und Erfahrungen aus der Vergangenheit in die Zukunft zu extrapolieren und die erzielten Prämieneinnahmen mit den verzeichneten Schäden vergleichen. «Wir arbeiten in der Branche streng genommen nur mit zwei Prozent der verfügbaren Daten, die der IT mit in strukturierter Form vorliegen», erklärt Gossmann. «Die übrigen 98 Prozent der Informationen liegen als unstrukturierte Daten in den Schadenakten, entweder noch in Papierform oder als pdf-Datei.» Diese würden überwiegend nicht genutzt.
Grossteil der Daten liegt ungenutzt im Keller
Digitalisierung sei in aller Munde, müsse aber von Grund auf angegangen werden. «Für die bestehenden Versicherer liegt der Schlüssel der Digitalisierung in der Nutzung der 98 Prozent der Informationen, die nicht als strukturierte Daten vorliegen», so Gossmann. «Auf dieser Basis hat man dann ganz viele Möglichkeiten, um das Underwriting zu verbessern oder die Schadenbearbeitung zu optimieren und zu automatisieren.»
Versicherer, die das System in ihrem Portfolio anwenden, könnten ungeahnte Hinweise bekommen, wo sie bisher gut oder schlecht waren. «Wenn ich weiss, was in der Vergangenheit gut oder schlecht gelaufen ist, kann ich ganz andere Schlüsse ziehen», erläutert Gossmann. Davon profitiere nicht nur das laufende Versicherungsgeschäft, das Verfahren schaffe auch die Grundlage für die Erschliessung von Algorithmen. In der Schadenbearbeitung verkürze das System die Bearbeitungszeiten drastisch. Der Bearbeiter muss sich nicht mehr Akten vollständig durchlesen und daraus Informationen extrahieren, sondern erhalte von Beginn an nur die wirklich relevanten Teile der Akten.
Bei einer Portfolioübernahme sei ein grosses Problem, dass im Rahmen der Due Dilligence nur ein Bruchteil der Schäden im Portfolio untersucht werden können – und selbst das auf herkömmlichem Wege sehr lange dauert. Die Gesellschaften müssen sich weitgehend auf aktuarielle Analyse verlassen. Mit seinem System ist die vollständige Analyse der Schäden in weniger als drei Woche möglich, verspricht Gossmann. Es wandele Schadenakten in maschinenlesbaren Text um und verstehe die Daten auch schon in Ansätzen. «Es handelt sich nicht nur um eine OCR, also eine reine Texterkennung, sondern jedes Wort bekommt einen Vektor und wird im Kontext erfasst», erläuterte Gossmann. «Wenn man die Akten erst einmal in maschinenlesbarer Form vorliegen hat, ist das das Tor zur Digitalisierung und der Einstieg in den Prognose-Bereich.»
Zunehmende Rechenleistung schafft Möglichkeiten
Eingescannte Dateien in grossen Mengen maschinenlesbar zu machen sei vor allem eine Frage der Rechenleistung. «Die Rechenleistung ist heute aber nicht mehr das Problem», sagte er. Die zur Verfügung stehende Rechengeschwindigkeit nimmt stetig zu. «Alle sechs Monate verdoppelt sich die Rechenleistung, die Sie im Markt einkaufen können, und das schafft Möglichkeiten, die wir in dieser Form noch vor fünf Jahren überhaupt nicht hatten.»
Mit Blick auf eine Due Dilligence bedeute das, dass nicht mehr Wochen oder Monate benötigt werden, sondern nur wenige Tage. «Dabei ist völlig egal, ob es 100'000 oder eine Million Schadenakten sind», so Gossmann. «Wir haben über Ostern 14 Millionen Dokumente transformiert, das hat nur zwei Tage gedauert.»