Um einen umfangreichen und komplizierten Datensatz auf ein überschaubares Format zu reduzieren, untersuchten wir, wie steil oder flach jede der 23 Zinskurven im Durchschnitt während der Monate Oktober und November 2019 im Vergleich zu ihrer eigenen historischen Entwicklung waren. Der historisch steilsten Kurve wiesen wir einen Wert von 100 Prozent zu, die historisch flachste Kurve erhielt einen Wert von null.

Nur fünf Kurven – die von Brasilien (BRL), Chile (CLP), China (CNH), Indien (INR) und Südafrika (ZAR) – waren überdurchschnittlich steil und deuteten somit auf stärkeres Wachstum. In jedem dieser fünf Länder verfolgte die Zentralbank einen expansiven Kurs. Chinas Notenbank hat den Mindestreservesatz reduziert, während die anderen Zentralbanken die Zinsen gesenkt haben. Das Ergebnis ist dasselbe: eine steilere Zinskurve und die Aussicht auf stärkeres Wachstum.

Enorme Unterschiede

Im Gegensatz dazu waren die anderen 18 Zinskurven weniger steil als ihr historischer Durchschnitt, und in einigen Fällen war der Unterschied enorm. Die Zinskurven für den Euroraum (EUR), Israel (ILS), Japan (JPY), Mexiko (MXN), Thailand (THB) und die USA (USD) liegen allesamt im Bereich der 10 Prozent historisch niedrigsten Gradienten (Steigungen) und legen daher ein stark rückläufiges Wachstum nahe. Besonders auffallend ist, dass sich Mexiko und die USA in dieser Gruppe befinden, obgleich doch die Notenbanken beider Länder dreimal zu Zinssenkungen gegriffen hatten.

Die meisten anderen Länder – einschliesslich Australien (AUD), Kanada (CAD), Südkorea (KRW), Norwegen (NOK), Polen (PLN), Schweden (SEK), der Schweiz (CHF), der Türkei (TRL) und Grossbritannien (GBP) – sind im unteren Drittel ihrer historischen Gradienten angesiedelt, was darauf hindeutet, dass ihnen in den Jahren 2020 und 2021 ein etwas schwächeres Wachstum bevorstehen dürfte. Die Entwicklung der russischen (RUS) und der kolumbianischen (COP) Zinskurve befindet sich in einem neutraleren Bereich, jeweils eher im Rahmen der historischen Entwicklung.

Frühere Korrelationen

Auf BIP-gewichteter Basis haben die fünf Länder, deren Wachstum sich am ehesten beschleunigen dürfte, im Jahr 2019 nach Angaben des IWF ein gemeinsames BIP-Volumen von US$ 19,5 Bio., was etwa 25 Prozent des gesamten BIP der 23 untersuchten Währungsräume entspricht. Die übrigen 75 Prozent (US$ 57,9 Bio.) sind Ländern zuzurechnen, die offenbar vor langsamerem Wachstum stehen – zumindest, wenn frühere Korrelationen sich in naher Zukunft als gültig erweisen.

Falls die globalen Zinsmärkte nun Recht behalten und sich das Wachstum in China und Indien erholt, könnte sich dies sehr positiv auf Rohstoffpreise und Schwellenländerwährungen auswirken. China allein macht 40–50 Prozent der Nachfrage nach Industriemetallen wie Kupfer aus und übt einen starken Einfluss auf die Energie- und Agrarmärkte sowie auf die wirtschaftliche Verfassung von Rohstoffexporteuren auf der ganzen Welt aus.

Um nicht verfrüht in Pessimismus zu verfallen, was das Weltwirtschaftswachstum angeht, sollte man wenigstens noch ein paar Fragen nachgehen:

  1. Sind flache Zinskurven in Regionen wie Europa, Japan und selbst in den USA Verzerrungen, die durch quantitative Lockerung hervorgerufen wurden?
  2. Wird die Analyse nicht auch durch die negativen Einlagenzinsen in Europa und Japan verzerrt?
  3. Könnten kräftig ansteigende Aktienmärkte den restriktiven Kreditkonditionen an den Anleihemärkten entgegenwirken?
  4. Wie viel Vertrauen dürfen wir dieser Analyse aus statistischer Sicht schenken? Variiert die Gültigkeit der Analyse je nach Währung?

Es lässt sich schwerlich argumentieren, die US-Notenbank Federal Reserve (Fed) verzerre die Zinskurve noch immer durch quantitative Lockerung. Erstens hat die Fed die Ausdehnung ihrer Bilanz Ende 2014 eingestellt. Zweitens hat sie Ende 2017 damit angefangen, ihre Bilanz von 25 auf 18 Prozent des BIP passiv zu schrumpfen. Seit September führt die Notenbank dem Repo-Markt Liquidität zu, grenzt diese Massnahme aber sehr klar von einer Wiederaufnahme quantitativer Lockerung ab.

Explosionsartiger Anstieg

Was an Verzerrungen durch quantitative Lockerung noch verblieben sein sollte, dürfte nicht sonderlich ins Gewicht fallen – besonders, wenn man den explosionsartigen Anstieg der Emissionen von US-Staatstiteln und den rasanten Zuwachs des Haushaltsdefizits innerhalb von drei Jahren (von 2,2 auf 4,7 Prozent des BIP) berücksichtigt.

Im Gegensatz dazu hat die Europäische Zentralbank (EZB) eine neue Runde quantitativer Lockerung eingeleitet, wobei weder die EZB noch die Bank of Japan (BoJ) jemals ihre Bilanzsumme nach erfolgter quantitativer Lockerung wieder heruntergefahren haben. Stichhaltig erscheint die Argumentation, dass der enorme Umfang der quantitativen Lockerung (44 Prozent des europäischen BIP und 100 Prozent des japanischen BIP) Verzerrungen an den Zinsmärkten verursacht und eine künstliche Abflachung der Zinskurven hervorgerufen hat – sowohl an den heimischen als auch an Auslandsmärkten, einschliesslich den USA. Daran kann kein Zweifel bestehen.

Negative Zinsen

Auch spricht einiges dafür, dass negative Zinsen das Wirtschaftswachstum in Europa und Japan nicht ankurbeln, sondern bremsen, während quantitative Lockerung offenbar weder in die eine noch in die andere Richtung sonderlich wirkungsvoll gewesen zu sein scheint. Zusätzlich könnten sich auch negative Zinsen verzerrend auf die Zinskurven auswirken. Sollten negative Zinsen das Wachstum in Europa und Japan tatsächlich behindern, würde dies zu den flachen Zinskurven passen. Die flachen Zinskurven in Europa, Japan und selbst in den USA spiegeln das Versagen quantitativer Lockerung und negativer Zinsen als Wachstumstreiber möglicherweise recht genau wider.

Ebenso kann es sein, dass sie die potenziell negativen Auswirkungen der restriktiven Zinsschritte der Fed zutreffend bewerten. Der Unterschied zwischen dem Zeitraum 2015–18, in dem die Fed eine restriktive Geldpolitik verfolgte, und den Experimenten der EZB und der BoJ mit negativen Zinsen besteht darin, dass die US-Zentralbank eine geldpolitische Straffung ernstlich beabsichtigte. Die EZB und die BoJ strebten eine weniger restriktive Geldpolitik an, doch wie es scheint, gelang ihnen dies nicht, da sie quasi eine Steuer in Form negativer Zinsen zulasten der Banken und Sparer erhoben. Es ist also nicht einmal völlig klar, ob die flachen Zinskurven wirklich negative Signale darstellen, jedenfalls in Europa.

Form der Zinskurve

Die Antwort auf die Frage, wie verlässlich die Aussagekraft der Zinskurven ist, variiert je nach Land und Währung. Von den 23 Währungsräumen wiesen Chile, China, Schweden und Südkorea den ausgeprägtesten Zusammenhang zwischen der Form der Zinskurve und dem anschliessenden BIP-Wachstum aus, gefolgt von Kolumbien, Kanada, der Türkei, Mexiko, Indien, dem Euroraum, Neuseeland und Norwegen. Der Euroraum zeichnete eine überdurchschnittlich starke Korrelation zwischen 3M10Y und dem anschliessenden BIP-Wachstum aus, was angesichts des Ausmasses quantitativer Lockerung durch die EZB sowie der negativen Zinsen über ein Viertel der bisherigen Lebensdauer des Euroraums als Währungsblock beachtlich ist.

Der schwächste Zusammenhang bestand in Japan, wo die BoJ quantitative Lockerung in einem Ausmass betrieb, das die vergleichbaren Schritte der Fed und der EZB erheblich überstieg. Neben dem Kauf von deutlich mehr Anleihen im Verhältnis zum BIP machte die BoJ auch weitaus grössere Zugeständnisse hinsichtlich der Kreditqualität. Im Gegensatz zur Fed beschränkte sie sich nicht auf Staatsanleihen und AAA-bewertete Hypothekendarlehen. Sie erwarb auch Unternehmensanleihen und sogar Aktien-ETFs. Zudem hat sich die Nullzinsphase in Japan länger als in jedem anderen Land hingezogen und, anders als in Europa und den USA, erlebte man dort eine langfristige Deflation, der erst in den letzten Jahren entgegengesteuert wurde.

Quantitative Lockerung

Im Unterschied zu vergleichbaren Bemühungen der Fed und der EZB funktionierte die von der BoJ betriebene quantitative Lockerung. Japan kehrte auf den Wachstumspfad zurück und zum ersten Mal seit Jahrzehnten drehte sich die Deflation in eine Inflation. Die verzerrte Zinskurve in Japan verriet von alledem nichts. Vielleicht ist auch die derzeitige flache Zinskurve nicht als Zeichen für einen Wirtschaftsabschwung zu werten.

Japan führte die Länder mit einem schwächeren Zusammenhang zwischen 3M10Y und künftigem BIP-Wachstum an, gefolgt von Israel, Brasilien, Südafrika, den USA, Grossbritannien, Polen, Australien, Thailand und Russland. Genau in der Mitte des Feldes befand sich die Schweiz. Man kann sich im Leben nicht auf vieles verlassen, aber man kann immer darauf zählen, dass die Schweizer neutral sind.

Indien und China gehörten zu den Ländern mit dem ausgeprägtesten Zusammenhang zwischen Zinskurvensteigung und anschliessendem BIP-Wachstum – dass ihre Zinskurven relativ steil verlaufen, ist ermutigend. Ebenso könnte es ein gutes Zeichen sein, dass man die flacheren Zinskurven in Ländern wie Israel, Japan, im Euroraum und in den USA antrifft, wo ein schwächerer Zusammenhang zwischen Zinskurvensteigung und anschliessendem BIP-Wachstum besteht. Jedenfalls werden die kommenden Jahre einen neuerlichen Test dafür liefern, ob man den Zinskurven verlässliche Wachstumsprognosen entnehmen kann.

Unter dem Strich

  • Die Zinskurven deuten auf stärkeres Wachstum in China, Indien, Chile und Brasilien hin.
  • Die Zinskurven deuten auf einen kräftigen Abschwung in den USA, im Euroraum sowie in Japan und Israel hin.
  • Alle 23 untersuchten Zinskurven weisen eine positive Korrelation mit dem sich drei bis fünf Quartale später einstellenden Wachstum auf.
  • Die Genauigkeit der Prognosen, die uns die Zinskurven liefern, zeichnet sich jedoch durch eine hohe Streuung aus.

Erik Norland ist Executive Director und Senior Economist der CME Group und somit für die wirtschaftlichen Analysen der globalen Finanzmärkte verantwortlich. Dabei identifiziert er aufkommende Trends, bewertet wirtschaftliche Faktoren und prognostiziert deren Auswirkungen auf die CME Group und ihre Geschäftsstrategie sowie auf die Anleger, die an den verschiedenen Märkten des Unternehmens handeln. Er ist ausserdem einer der Sprecher der CME Group für Themen, die die globale wirtschaftliche, finanzielle und geopolitische Lage betreffen.

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