Über 80 Prozent der Autofahrer behaupten, überdurchschnittlich gute Lenker zu sein. Eine ähnlich hohe Quote wird erzielt, wenn Kapitalmarktteilnehmer gefragt werden, ob ihr Handeln rational oder emotional ist.

Von Thomas Wille, Senior Investment Strategist der LGT

Selbstverständlich ist eine überwiegende Mehrheit der Marktakteure überzeugt, Entscheidungen primär aufgrund von Fakten rein rational zu treffen. Doch wie reagieren die Marktteilnehmer auf die Entwicklungen an den Finanzmärkten? War ihre Reaktion auf den Brexit oder die US-Präsidentschaftswahlen rational oder emotional?

Diese Fragen sind nicht eindeutig zu beantworten. In der Regel ist es gewinn- bzw. verlustabhängig, ob bei einem Menschen ein rationales oder emotionales Verhalten beobachtet werden kann. Die Erklärung dafür liegt in der Wahrnehmung.

Die Entstehung von Investment-Tunnelblicken

Ein Verlust von einem Franken weckt in etwa gleich viele Emotionen wie ein Gewinn von 2.40 Franken. Aufgrund dieser Asymmetrie schwankt ein Investor oft zwischen beiden Welten. Er ist in seiner eigenen subjektiven respektive selektiven Wahrnehmung gefangen, versteift und emotional an seine Analyse gebunden. Der zu Beginn rationale Entscheidungsträger befindet sich nun zwischen Glaube und Hoffnung.

Beides sind in der Regel schlechte Ratgeber respektive Entscheidungshilfen. Die kritische Selbstreflektion bleibt aus. Es wird versucht, eine vorgefasste, selbstdefinierte Kapitalmarktmeinung mit einer Vielzahl von Informationen zu untermauern. Die Realität wird in eine vordefinierte Vision projiziert und die Wirklichkeit selektiv ausgeblendet. Je höher der Verlust, desto stärker dieses Verhalten.

Google oder postfaktisches Investieren

Dank Internet und Google sind im 21. Jahrhundert fast unendlich viele Informationen verfügbar. Das erlaubt dem «rationalen» Investor, sich seine ganz eigene Ideenwelt zu kreieren. Diese Welt sieht auf den ersten Blick logisch und durchdacht aus, kann jedoch – trotz aller Fakten – mit Emotionen behaftet sein.

Angst, Gier, Selbstüberschätzung und eine zum Teil realitätsfremde Erwartungshaltung respektive nicht lineare Wahrnehmung von Finanzgewinnen und -verlusten sind nur einige Beispiele. Die Vielzahl von an sich zum Teil unlogischen Verhaltensweisen würde den Umfang dieses Beitrags sprengen. Fakt ist: Sie alle führen bei rationalen Investoren in der Regel zu emotional getätigten Investitionsentscheiden.

Der Grat zwischen rationalem Verhalten und emotionalem Dilemma ist sehr schmal und hängt primär vom Verlauf der Märkte ab. Freundliche Kapitalmärkte ermöglichen fast jedem Marktteilnehmer, auf der Aufwärtswelle mitzuschwimmen. Emotional getätigte Entscheidungen haben in einer solchen Situation keine negativen Konsequenzen.

Es ist so, als ob sie bei einem Azorenhoch keinen Regenschirm benötigen. Das Blatt kann sich jedoch schnell wenden, sollte die Investition ins Wanken kommen. Emotionale Verhaltensweisen dominieren dann und übernehmen die Kontrolle.

Rationale Auswege aus der Emotionsfalle

Wie kann sich ein Anleger dagegen schützen? Einerseits sollten Investoren auf eine robuste Anlagestrategien bauen, mit der ihre Investitionen nicht nur während Schönwetterphasen gut bestehen. Andererseits – und dies ist aus meiner Sicht von zentraler Bedeutung –, sollten Investoren stets einen Plan respektive einen vordefinierten Weg im Kopf haben. Mit Hilfe von Szenarien sollte im Vorfeld definiert werden, wie man am besten reagiert, wenn sich ein positives, neutrales oder negatives Ergebnis materialisiert.

In der Realität wird es nie möglich sein, frei von Emotionen zu handeln. Aber gerade in Zeiten hoher Volatilität ist es entscheidend, einen vordefinierten Plan zu haben, um unter hohem Stress das Vermögen zu sichern. Der Plan könnte zum Beispiel eine vordefinierte Stopp-Loss-Limite beinhalten oder eine Risikokennzahl auf Portfolioebene. Diese hätte zum Ziel, den Vermögensverlust zu begrenzen sowie das Kapital zu sichern.

Trotz unserer hochtechnologisierten Welt mit immer komplexeren Finanzinstrumenten bleiben Emotionen ein wichtiger Bestandteil der Kapitalmärkte und sollten von keinem «rational» denkenden Investoren unterschätzt werden


Thomas Wille ist als Senior Investment Strategist der LGT für die Anlagestrategie unserer Privatkunden in Europa verantwortlich. Er studierte Finance an der Universität St. Gallen und ist seit über 20 Jahren an den Finanzmärkten im Bereich Anlagestrategie und Vermögensallokation tätig. Neben der Fundamentalanalyse beschäftigt er sich auch intensiv damit, wie die Faktoren der Behavioral Finance die Kapitalmärkte beeinflussen. Als Dozent für angewandte Volkswirtschaftslehre vermittelt er sein Wissen angehenden Ingenieuren an der Hochschule Luzern.