Seit dem Ausbruch der Coronakrise wächst die Geldmenge noch schneller als bisher. Droht dadurch schon bald eine Inflation? Der Zins- und Anleihen-Spezialist Sigi Böttinger verfolgt die Finanzmärkte seit Jahrzehnten und kommt zu überraschenden Schlüssen.
Herr Böttinger, nach den drastischen Verlusten im zweiten Quartal 2020 haben sich die Börsenkurse im weiteren Jahresverlauf wieder deutlich erholt. Viele Investoren realisieren nun Gewinne, fragen sich aber gleichzeitig, wie sie mit diesen Geldern weiter umgehen sollen. Was empfehlen Sie?
Geldmarktanlagen in Euro und Franken sind sicherlich keine Option mehr, da sich auf mittlere Sicht die kurzfristigen Zinsen nicht aus dem negativen Bereich herausbewegen werden. Auch mit Geldmarktanlagen in Dollar sind wir mittlerweile nahe am Nullpunkt angelangt.
Interessant ist meines Erachtens eine diversifizierte Obligationenstrategie mit Fokus auf bilanzstarke Unternehmensanleihen und dem Einbezug selektiver Märkten aus den Schwellenländern. Damit lassen sich selbst für in Franken denominierte Anleger noch positive Renditen erzielen. Allerdings ist es essenziell, die Fremdwährungsrisiken vollständig abzusichern.
Welche Auswirkungen auf die Zinsentwicklung sehen bezüglich in den USA im Zusammenhang mit dem Präsidenten-Wechsel von Donald Trump zu Joe Biden?
Zinserhöhungen von der amerikanischen Zentralbank (Federal Reserve, Fed) sind auf absehbare Zeit nicht zu erwarten. Allerdings ist im Zuge der zusätzlichen fiskalischen Impulse mit einer steileren Zinskurve zu rechnen.
«Die Renditen von Obligationen mit langen Laufzeiten sollten steigen»
Im Moment beträgt die Renditedifferenz zwischen 2-jährigen und 10-jährigen US Treasuries rund 75 Basispunkte. Dieser sogenannte Term-Spread betrug im Durchschnitt der vergangenen 20 Jahre knappe 130 Basispunkte. Es ist sehr wahrscheinlich, dass wir eine Anpassung sehen werden.
Das heisst, dass die Renditen von Obligationen mit langen Laufzeiten steigen sollten. Da die Kurse dieser Papiere sehr sensitiv auf Renditeänderungen reagieren, muss in diesem Segment mit Ertragseinbussen gerechnet werden. Darum implementieren wir eine vorsichtige Strategie und halten die Duration im Bereich von drei Jahren.
Die Notenbanken haben im laufenden Jahr die Märkte mit enormer Liquidität geflutet, um den wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie Stand zu halten. Welche Auswirkungen sehen Sie in der dadurch erhöhten Verschuldung?
Die Zentralbanken fluten die Märkte bereits seit der Finanzkrise von 2008 und haben im laufenden Jahr nochmals ein paar Gänge höher geschalten. Dies war allerdings nötig, da im vergangenen März die Kreditmärkte vor dem totalen Kollaps standen.
«Was die staatlichen Defizite betrifft, so ist tatsächlich mit einer weiteren Verschlechterung zu rechnen»
Ein beherztes Eingreifen war zu diesem Zeitpunkt auch deswegen zwingend, um Vertrauen zu bilden und die Refinanzierungsbedürfnisse der Unternehmen zu ermöglichen. Was die staatlichen Defizite betrifft, so ist tatsächlich mit einer weiteren Verschlechterung zu rechnen.
Was hat das für Folgen?
Bereits jetzt beläuft sich in den USA das laufende staatliche Defizit auf mehr als 15 Prozent des Bruttoinlandprodukts (Gross Domestic Product, GDP). Dies liess die Staatsschuldenquote auf deutlich über 100 Prozent hochschnellen: Tendenz weiter steigend – eine wahrliche Meisterleistung der jetzt abgewählten Trump-Administration.
Ein Richtungswechsel in der Geldpolitik der Fed ist somit, wie bereits erwähnt, nicht zu erwarten. Ähnlich sieht es leider auch in anderen westlichen Volkswirtschaften aus.
Befürchten Sie Inflationsrisiken, bedingt durch die steigende Geldmenge M1?
Zunächst möchte ich hier Klarheit bezüglich zweier Begriffe schaffen, die selbst von vielen Anlegern nicht oder falsch verstanden werden: Es gibt die Geldbasis und die Geldmenge, was zwei völlig verschiedene Konzepte sind.
Ein Explodieren der monetären Basis muss nicht zwingend mit einer Ausweitung der Geldmenge einher gehen. Wenn der Transmissions-Mechanismus nicht funktioniert, kann sogar das Gegenteil der Fall sein.
«Die Kreditvergabe der Banken an die Unternehmen wurde eingefroren»
Dies liess sich in den Jahren nach der Finanzkrise gut beobachten. Die Kreditvergabe der Banken an die Unternehmen wurde eingefroren. Dies bedeutete, dass das virtuell geschaffene Geld nur im Bankensystem kursierte und nicht in der Realwirtschaft ankam.
Können Sie dies am Beispiel der Schweiz präzisieren?
Bis vor der Finanzkrise 2008 legte die Schweizerische Notenbank (SNB) ihr Augenmerk auf die Entwicklung der monetären Basis, also der Notenbankgeldmenge M0. Diese setzt sich aus der Summe von Notenumlauf und Sichtguthaben der inländischen Geschäftsbanken bei der SNB zusammen. Dabei gibt es empirische Untersuchungen, die einen engen Zusammenhang zwischen dem Anstieg der Notenbankgeldmenge M0 und einer sich beschleunigenden Inflation nach 18 bis 24 Monaten nachweisen.
Zwischen 1997 und 2007 betrug die ausgewiesene, bereinigte Notenbankgeldmenge im Durchschnitt 45 Milliarden Franken, wobei in diesem Zeitraum eine durchschnittliche Inflation von 0,9 Prozent pro Jahr resultierte.
«Die lehrbuchmässigen Zusammenhänge geldpolitischer Aktionen sind im Moment ausser Kraft gesetzt»
Seit 2008 ist M0 von 45 Milliarden Franken stetig auf mehr als 720 Milliarden Franken gestiegen. Und was haben wir? Deflation! Von 2008 bis heute betrug die durchschnittliche Inflation lediglich 0,4 Prozent pro Jahr, mit längeren deflationären Phasen.
Was lässt sich daraus folgern?
Daraus lassen sich meines Erachtens zwei Dinge folgern. Ersten sind die lehrbuchmässigen Zusammenhänge geldpolitischer Aktionen im Moment ausser Kraft gesetzt, und zweitens gibt es kaum theoretische und empirische Untersuchungen über die Langzeitfolgen der von den Zentralbanken eingesetzten Mittel in quasi unbeschränktem Ausmass.
Auch das frühere gebetsmühlenhafte Festklammern der Deutschen Bundesbank an der Entwicklung von M3 und deren Auswirkungen auf das Preisniveau halten seit geraumer Zeit der Realität nicht Stand.
«Die Banken kaufen nur deshalb so viele Staatsanleihen, weil sie diese an die EZB weiterreichen können»
Seit Anfang Jahr stieg in Euroland M3 von 5,2 Prozent auf 10,5 Prozent im Oktober. Im gleichen Zeitraum fiel die Inflationsrate von 1,4 Prozent auf minus 0,3 Prozent. Für die starke Ausweitung von M3 ist zum grössten Teil der Kredithunger der Staaten verantwortlich. Hinter den stark steigenden Krediten an die Staaten stehen vor allem die Staatsanleihen-Käufe der Banken.
Die Banken kaufen nur deshalb so viele Staatsanleihen, weil sie diese an die Europäische Zentralbank (EZB) weiterreichen können. Somit ist es vor allem die EZB, die mit ihren Anleihekaufprogrammen die Geldmenge nach oben treibt.
«Die hohe Arbeitslosigkeit wird den Anstieg der Arbeitskosten niedrig halten oder sogar noch senken»
Dass die Geldmenge seit Ausbruch der Coronakrise schneller wächst, liegt also insbesondere in der Finanzierung der Haushaltsdefizite, aber auch in den grosszügig ausgestalteten und zum Teil staatlich garantierten Kreditspritzen an Unternehmen, die unverschuldet in die Krise getrieben wurden.
Etwa zwei Drittel der gemessenen Inflation resultieren aus Lohninflation. Die hohe Arbeitslosigkeit wird den Anstieg der Arbeitskosten niedrig halten oder sogar noch senken. Dazu kommen die enormen Produktionslücken und unterausgelastet Kapazitäten, die Preisüberwälzungen nahezu verunmöglichen.
Kurzum: Aus dieser Sicht ist für die kommenden Jahre nicht mit einer steigenden Inflation zur rechnen.
Siegbert «Sigi» Böttinger ist Mitgründer der in Zürich ansässigen Firma Pilatus Partners und als Chief Investment Officer für die Fixed-Income-Strategie und deren Umsetzung verantwortlich. Er studierte Volkswirtschaftslehre an der Universität Konstanz. Im Bereich Makro- und Bondresearch bringt er 30 Jahre Erfahrung mit und besitzt einen über 20-jährigen Leistungsausweis als Manager von Obligationenfonds.