Künstliche Intelligenz hat in den vergangenen Jahren rasant an Bedeutung gewonnen und steht im Mittelpunkt sowohl utopischer Visionen einer besseren Gesellschaft als auch dystopischer Ängste und Warnungen vor ihren potenziellen Risiken.
Von Clara Guerra, Leiterin der Stabsstelle für Finanzplatzinnovation und Digitalisierung (SFID) des Fürstentums Liechtensteins
Wie die Geschichte zeigt, hat das Aufkommen neuer Basistechnologien immer wieder eine Zeitenwende und grosse Veränderungen eingeleitet. Erleben wir eine Renaissance des menschlichen Potenzials?
GenAI – Evolutionssprung im Bereich KI
Seit November 2022 hat ChatGPT mit der schnellsten Nutzeradaption aller Zeiten – 100 Millionen monatlich aktive Nutzer nur zwei Monate nach dem Start – die Welt aufgerüttelt und das transformative Potenzial von KI verdeutlicht. Die grossen Sprachmodelle (Large Language Models; LLMs), bekannt als GenAI (generative KI), zu denen auch ChatGPT gehört, haben unsere Wahrnehmung von KI radikal verändert.
Was einst Domäne von Technik- oder Computerspezialisten war, ist nun für alle zugänglich und steht im Zentrum einer transformativen Revolution.
Beindruckend ist die Anpassungsfähigkeit
Diese LLMs, die Milliarden von Datenpunkten enthalten, können nicht nur Texte verfassen und visuelle Inhalte kreieren, sondern auch Vorhersagen treffen. Insbesondere seit der Deep-Learning-Revolution von 2013 haben sie immense Fortschritte gemacht und haben das Potenzial, nahezu jeden Aspekt unseres Lebens zu beeinflussen.
Doch das beeindruckendste an GenAI ist nicht nur ihre technologische Kapazität, sondern ihre Anpassungsfähigkeit: Sie können für diverse Aufgaben modifiziert und dabei so benutzerfreundlich gestaltet werden, dass sie weit über den Kreis der Technikspezialisten hinaus Anwendung finden.
Regulierung: Notwendigkeit einer globalen Perspektive
In einer globalisierten Welt, in der Technologie keine Grenzen kennt, stellt die Regulierung von KI eine monumentale Herausforderung dar. Weltweit werden aktuell unterschiedliche rechtliche Rahmenbedingungen entwickelt, um dem rasanten Fortschritt und der Vielfalt der sich entfaltenden KI-Technologie entgegenzutreten.
Ob umfassende Gesetzgebungen, die gezielte Anwendungsfälle regulieren, oder freiwillige Richtlinien – das legislative Engagement ist unverkennbar. Die Notwendigkeit internationaler Kooperation und Koordination ist offensichtlich, aber angesichts der unterschiedlichen Interessen der Einzelstaaten komplex.
Europas KI-Gesetzesvorschlag
Der erste Entwurf der EU-KI-Verordnung, der im April 2021 publiziert wurde, repräsentierte bereits einen gesetzlichen Hybridansatz. Er kombinierte traditionelle Produktsicherheitsansätze mit einer Berücksichtigung der breiten Palette von Grundrechten, die durch KI tangiert werden.
Ein risikobasierter Ansatz und der Schutz fundamentaler Rechte wurden in diesem Gesetzesentwurf von Anfang an integriert. Doch mit dem Aufkommen von ChatGPT durch OpenAI wurde ersichtlich, dass die Komplexität und Anpassungsfähigkeit von LLMs die Rahmenbedingungen des ursprünglichen Entwurfs überstiegen.
Zeitplan ungewiss
Dies führte zu einer umfassenden Überarbeitung der Verordnung, die sodann Mitte Juni 2023 veröffentlicht wurde. In diesem revidierten Entwurf wird die generative KI, wie sie in Modellen wie ChatGPT zum Tragen kommt, explizit behandelt (Entwurf AI-Act Art. 28b).
Der Entwurf wird nun von den EU-Gremien final verhandelt. Die bevorstehenden EU-Parlamentswahlen könnten den Prozess verzögern, beschleunigen jedoch derzeit die Verhandlungen, da ein schneller Abschluss angestrebt wird. Es bleibt ungewiss, ob bis Jahresende eine Einigung gefunden wird, was für den Zeitplan der Umsetzung entscheidend ist.
Perspektive Liechtensteins auf KI
Für Liechtenstein sind Wirtschaft und Finanzsektor von höchster Bedeutung. Bereiche, in denen Produktivitäts- und Effizienzsteigerungen für Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum durch den Einsatz neuer Technologien essenziell sind.
Dies lässt sich besonders anhand der disruptiven Möglichkeiten und Auswirkungen der KI in der Finanzindustrie verdeutlichen. KI-Anwendungen im Finanzwesen, vom Kundenservice über die Betrugserkennung und die Finanzmodellierung bis hin zum Risikomanagement, sind vielversprechend.
Im Industriebereich könnten KI-Lösungen dazu beitragen, die Effizienz zu steigern, Abfall zu reduzieren und Ressourcennutzung zu verbessern, indem sie unter anderem helfen, Lieferketten zu optimieren. Zudem birgt KI enormes Potenzial im Gesundheitswesen, beispielsweise bei der Diagnose von Krankheiten und der personalisierten Medizin, sowie im Bildungsbereich, indem sie verstärkt individualisiertes Lernen ermöglicht.
«AI for good»
Doch Liechtenstein betont neben Innovation auch Tradition und Nachhaltigkeit. Neben wirtschaftlichem Fortschritt kann das Land danach streben, «AI for good» nicht nur als Schlagwort zu nutzen, sondern in die Praxis umzusetzen, um positive Veränderungen zu bewirken und einen nachhaltigen Einfluss weit über seine Landesgrenzen hinaus zu erzielen.
In dieser Technologie-Ära könnte die Gesellschaft auch eine Renaissance des menschlichen Potenzials erleben, in der Mensch und Technik synergistisch zusammenarbeiten, um Werte, Kultur und Kreativität gleichermassen zu fördern und zur Entfaltung zu bringen.
Das Dilemma des digitalen Fortschritts
Gleichzeitig steht die Gesellschaft durch KI auch vor neuen, beispiellosen ethischen und sicherheitsrelevanten Herausforderungen. Auf die anfängliche Begeisterung über GenAI folgten laute Rufe, Leitplanken zu setzen oder gar die Entwicklung zu stoppen – wobei einige dieser Rufe sogar direkt aus den Reihen der Entwickler selbst kommen.
Die Ergebnisse können falsch aber immer noch trügerisch überzeugend sein, eingebettete Vorurteile in Daten können verstärkt werden und es zeigen sich etliche noch ungelöste Probleme mit dem Datenschutz, der Vertraulichkeit und dem Urheberrecht.
Verantwortung und Innovation gehen Hand in Hand
Die KI-Zukunft birgt transformative Möglichkeiten für viele Sektoren. Doch grosses Potenzial bringt auch grosse Verantwortung mit sich. Liechtenstein und andere Staaten müssen gemeinsame Standards und Richtlinien schaffen, die den digitalen Wandel unterstützen und gleichzeitig die Sicherheit der Bürger garantieren.
Liechtenstein mag klein sein, doch es zeichnet sich durch Anpassungsfähigkeit und Innovation aus. Künstliche Intelligenz, besonders GenAI, steht an einem Wendepunkt. Die EU-KI-Verordnung ist ein wichtiger Schritt, doch es bedarf einer kontinuierlichen weiteren Auseinandersetzung auf allen Ebenen, um einen ethischen und verantwortungsvollen Einsatz von KI zu garantieren, die Vorteile der KI auszuschöpfen und die Risiken zu reduzieren.
Diese Reise erfordert Kooperation und stetige Weiterbildung.
Clara Guerra ist Leiterin der Stabsstelle für Finanzplatzinnovation und Digitalisierung (SFID) des Fürstentums Liechtensteins und Co-Chair der European Blockchain Association (EBA). Als Juristin mit Schwerpunkt in High-Tech, Innovation und Digitalisierung war sie zuvor in der Privatwirtschaft tätig und engagiert sich als Board Member im Hochschul- und MedTech-Bereich. Sie hält regelmässig Vorträge und publiziert über aufkommende Technologien und Innovationsthemen aus staatlicher Perspektive.