Nach Wochen der Unsicherheit ohne Sozialkontakte werden bei vielen die Nerven dünner. Doch wir sind den negativen Folgen des Lockdown nicht wehrlos ausgesetzt, sondern haben viele Möglichkeiten, das Heft selbst in die Hand zu nehmen.


Von Claudia Kraaz


Viele Menschen befinden sich derzeit in derselben Lage: Sie sind zu Hause, nur zu Hause. Auf engem Raum, viele mit Kindern, die zwar Home Schooling haben, aber doch Unterstützung brauchen, obwohl die Eltern eigentlich arbeiten müssen. Angesichts der ungewohnten Nähe daheim herrscht vielerorts zwischendurch dicke Luft, da wir uns nicht ausweichen können.

Die Unsicherheiten darüber, welche Auswirkungen das Coronavirus auf unsere Gesundheit und die unserer Lieben, unsere finanzielle Situation und die Wirtschaft und Gesellschaft als Ganzes haben wird, strapazieren die Nerven zusätzlich. Ganz viele verschiedene Unsicherheiten kumulieren sich, mit entsprechenden Auswirkungen.

Nährboden für Konflikte

So sind die vielfältigen Ängste ein «fruchtbarer» Nährboden für Auseinandersetzungen. In China, das uns ja einige Wochen voraus ist in der Corona-Entwicklung, ist die Anzahl häuslicher Konflikte und auch Scheidungen in die Höhe geschnellt.

Das Konfliktpotenzial hat sich gewissermassen verdoppelt, wie es Patrick Fassbind, Leiter der Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde Basel-Stadt, in der «Neuen Zürcher Zeitung» auf den Punkt gebracht hat: Die Belastungen nehmen für viele Leute zu, und die Auswirkungen verlagern sich praktisch vollumfänglich ins eigene Heim.

Unterschiedliche Reaktionen

In einer solchen Krisensituation verhalten sich die Menschen ganz unterschiedlich. Gewisse negieren die Situation («ist ja alles nicht so schlimm»). Andere verlieren auf irgendeine Art die Kontrolle: Sie resignieren, geraten in Panik, werden aggressiv oder nehmen mehr Suchtmittel zu sich.

Das alles hilft uns aber nicht, die aktuelle Situation bestmöglich zu überstehen. Entscheidend im Umgang damit ist eine mentale Stärke. Konkret gilt es, die richtige Einstellung zur aktuellen Lage zu finden. Folgende Tipps können helfen:

  • Das Wichtigste ist, dass Sie sich bewusst werden, dass es Ihre Entscheidung ist, wie Sie mit der Situation umgehen: Kämpfen Sie gegen Windmühlen, oder akzeptieren Sie die Situation und versuchen, das Beste daraus zu machen? Das Motto einer meiner Coaching-Kundinnen ist zu Recht: «It is what it is.» Das bedeutet auch, sich nicht über die Situation zu beklagen oder sich in die Opferhaltung zu begeben. Wie schon Reinhold Niebuhr sagte: «Gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann; gib mir den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann; und gib mir die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.»
  • Schreiben Sie Ihre Ängste auf. Sie verlieren dadurch an Bedrohlichkeit. Und notieren Sie, auf was Sie sich freuen, wenn die Zeit der Quarantäne vorbei ist. Versuchen Sie dann, diese tollen Sachen zu visualisieren – sich also mit allen Sinnen vorzustellen, wie es ist, wenn Sie sie unternehmen und machen können. Das Gehirn macht keinen Unterschied, ob Sie etwas tun oder es sich nur lebhaft vorstellen. Bei vielen Menschen fliesst schon der Speichel, wenn sie an etwas Leckeres zu Essen denken.
  • Machen Sie Sachen, die Sie schon immer tun wollten, für die Sie aber nie Zeit fanden: ein Buch lesen, mehr Spaziergänge unternehmen, mit den Kindern Gesellschaftsspiele machen... Sehen Sie also auch das Positive an dieser schwierigen Situation. Mehrere Leute in meinem beruflichen und privaten Umfeld haben mir gesagt, dass sie die aktuelle Entschleunigung als sehr angenehm empfinden. Überlegen Sie sich auch, was Sie aus dieser herausfordernden Lage mitnehmen und danach anders machen wollen – zum Beispiel, immer wieder zu entschleunigen.
  • Erinnern Sie sich, welche anderen schwierigen Situationen Sie in der Vergangenheit schon gemeistert haben und welche Fähigkeiten oder Vorgehensweisen Ihnen damals geholfen haben. Das sind Ressourcen, die Sie auch heute wieder anzapfen können.
  • Ein Tipp der erfahrenen Krisenmanagerin und heutigen Coach und Referentin Nicole Brandes: Suchen Sie Möglichkeiten, wie Sie die finanziellen Nachteile der Massnahmen gegen die Pandemie ausgleichen können. Vielleicht bietet die aktuelle Situation auch neue geschäftliche Chancen. Ich habe zum Beispiel zusammen mit einem meiner grössten Unternehmens-Kunden ein Unterstützungsangebot für Mitarbeitende entwickelt, die aufgrund der aktuellen Lage gestresst sind. Für diese biete ich nun Kurz-Online-Coachings an.
  • Tun Sie Gutes und befähigen andere dazu, besser mit der Lage umzugehen. Wir gehen für unseren bald 87-jährigen Nachbarn und andere kranke Nachbarn einkaufen – so wie dies viele Leute weltweit tun. So toll, wie viele Bekundungen von Solidarität es gibt! Wir können uns alle gegenseitig helfen.
  • Der Mensch ist ein soziales Wesen, dem Zugehörigkeit sehr wichtig ist und der Kontakt braucht, um mit Belastungen umgehen zu können, ohne krank zu werden. Im Moment sind wir von fast allen physischen Kontakten abgeschnitten. Das soll uns aber nicht daran hindern, beruflichen und privaten Austausch zu pflegen – einfach online. Oder vielleicht freut sich einer Ihrer Lieben auch über eine heute so rar gewordene Karte von Ihnen. Oder treffen Sie sich mit Ihren Nachbarn über die Garten- oder Balkon-Grenzen hinweg zu einem Apéro, wie wir es nun jeden Samstagnachmittag tun.
  • Ein toller Tipp kommt auch von der Trainerin und Coach Antje Heimsoeth: halten Sie das Team-Gefühl aufrecht. Viele Unternehmen haben Online-Kaffeepausen eingeführt. Und der Versicherer Allianz Suisse macht nun täglich Radiosendungen für die Mitarbeitenden, damit sie wissen, was in den anderen Bereichen läuft – was das Gemeinschaftsgefühl stärkt.
  • Schaffen Sie Struktur und Routine, denn sie bringen Ihnen Sicherheit, da Sie dann das Gefühl haben, Ihr Leben im Kleinen unter Kontrolle zu haben. Stehen Sie am Morgen zur gleichen Zeit wie sonst auf, frühstücken Sie, ziehen Sie sich an (ja nicht im Pyjama bleiben!), arbeiten Sie zu denselben Zeiten, nehmen Sie drei Mahlzeiten am Tag ein und gehen Sie ganz normal ins Bett. Planen Sie, bis wann Sie welche Aufgaben erledigen und wann Sie frei haben. Selbstdisziplin ist hier sehr wichtig. Und planen Sie jeden Tag ein Highlight, auf das Sie sich freuen können.
  • Schreiben Sie am Abend auf, was Sie gut gemacht haben und für was Sie auch in diesen schwierigen Zeiten dankbar sind. Verschieben Sie also Ihren Fokus vom Negativen zum Positiven.
  • Dasselbe gilt für das Grübeln. Verlieren Sie sich nicht in negativen Gedanken oder in schlimmen Zukunftsszenarien. Dabei helfen mentale Tricks: Beschränken Sie die Grübelzeit zum Beispiel auf eine Viertelstunde (mit Wecker). Danach wenden Sie sich bewusst wieder positiven Gedanken zu und den Dingen, die Sie verändern können. Als Alternative halten Sie sich, wenn das negative Kopfkino läuft, ein Stopp-Schild vor Ihr inneres Auge. Oder stellen Sie sich vor, Ihre Gedanken seien Wolken, die einfach an Ihnen vorbeischweben.
  • Zuhause ist eine Mischung zwischen Toleranz und klaren Regeln angesagt. Versuchen Sie zu verstehen, wenn andere gereizt reagieren. Reden Sie über Ihre Ängste und diejenigen der anderen. Gleichzeitig ist es sehr wichtig, sich in der Hausgemeinschaft gut zu organisieren und klare Regeln für ein möglichst reibungsfreies Zusammenleben zu definieren. Mein Mann und ich haben zum Beispiel abgemacht, dass wir uns zum Telefonieren in ein abschliessbares Zimmer zurückziehen, um die anderen Familienmitglieder beim Arbeiten nicht zu stören.
  • Checken Sie nicht jede Viertelstunde die News, sondern nur wenige Male pro Tag. Konsultieren Sie seriöse Medien und lassen Sie sich nicht von Verschwörungstheorien und Fake-Meldungen verunsichern.
  • Humor tut uns in solch schwierigen Zeiten gut. Ich habe in letzter Zeit viele lustige Videos und Fotos zum Thema Corona erhalten und bin immer wieder beeindruckt von der Kreativität der Menschen in der Krise. Ein gutes Beispiel hier, ein zweites im Video. 

  • Bewegen Sie sich jeden Tag, idealerweise an der frischen Luft. Bewegung baut das Stresshormon Cortisol ab und wirkt sich positiv auf Ihr Immunsystem und auch auf die Psyche aus. Dafür braucht man nicht zwingend ein Fitnessstudio: Im Internet finden sich viele Videos, mit denen Sie zu Hause Ihren Körper fit halten können. Einen positiven Einfluss auf die mentale Verfassung hat auch, auf eine aufrechte Körperhaltung zu achten.
  • Stärken Sie auch sonst Ihr Immunsystem, zum Beispiel durch eine ausgewogene Ernährung, die Zufuhr von Vitaminen und Mineralstoffen (vor allem Vitamin C und Zink), genügend Schlaf und feuchte Schleimhäute (etwa durch Meersalz-Sprays). Ein gutes Immunsystem hilft, Infektionen besser zu überstehen. «Das scheint auch für das Corona-Virus zu gelten», sagte Professor Sarah Tschudin Sutter, leitende Ärztin an der Klinik für Infektiologie und Spitalhygiene des Universitätsspitals Basel, der «Coop-Zeitung».
  • Wenn Sie trotz all dieser Tipps mit der aktuellen Situation nicht zurechtkommen, holen Sie sich Hilfe bei Freunden oder professionelle Unterstützung.

Thomas Albrecht, österreichischer Coach und Referent, fasst es treffend zusammen: «Meist ist nicht das Problem das eigentliche Problem, sondern der Umgang mit dem Problem.»

Mit diesen Tipps haben Sie zumindest einige Tools, um die Sache in die eigenen Hände zu nehmen. Es gibt viele Dinge, die Sie machen können, um diese herausfordernde Situation bestmöglich zu bewältigen. Mentale Stärke ist zum Glück lernbar.


Mit ihrem Unternehmen «Stress and Balance» ist Claudia Kraaz seit gut fünfeinhalb Jahren als Führungs- und Stress-Coach selbständig. Sie gibt zudem Vorträge und Workshops zu den Themen Resilienz, Stress und Burnout. Zuvor war sie während 13 Jahren in leitenden Funktionen in der Unternehmenskommunikation tätig, unter anderem bei der Zurich Insurance Group, der Zürcher Privatbank Vontobel und der Credit Suisse, wo sie als stellvertretende Kommunikationschefin weltweit unter anderem für die Beratung des damaligen Konzernchefs Oswald Grübel und anderer Spitzenleute verantwortlich war und selber 50 Mitarbeitende geführt hat.